Von ihrem Tisch am Fenster konnte Ellie den Regen auf die Straße niederprasseln sehen. Unverdrossen eilte ein völlig durchnäßter Fußgänger mit hochgeschlagenem Kragen vorbei. Der Besitzer des Restaurants, des berühmten Theatertreffpunkts Chez Dieux, hatte die gestreifte Markise über die Austernkübel gekurbelt, die draußen auf der Straße, getrennt nach Größe und Qualität, für die Spezialität des Hauses warben. Drinnen war es warm und gemütlich. Da schönes Wetter angekündigt worden war, war Ellie ohne Regenmantel und Schirm unterwegs.
Waygay, der ähnlich gut gelaunt war, schnitt gerade ein neues Thema an. „Meine Freundin Meera“, begann er, „ist Stripteasetänzerin — das ist doch das richtige Wort? Wenn Sie in Ihrem Land arbeitet, gibt sie Vorstellungen für Akademiker auf Versammlungen und Konferenzen. Meera behauptet, wenn sie sich vor Arbeitern auszieht — auf Gewerkschaftsversammlungen zum Beispiel —, werden die ganz wild, machen anzügliche Bemerkungen und wollen auf die Bühne kommen. Zieht sie aber genau die gleiche Schau für Ärzte und Rechtsanwälte ab, bleiben die bewegungslos sitzen. Ein paar lecken sich die Lippen, sagt Meera. Da frage ich mich: Sind Rechtsanwälte normaler als Stahlarbeiter?“ Daß Waygay verschiedene weibliche Bekanntschaften pflegte, war noch nie ein Geheimnis gewesen. Seine Annäherungsversuche an Frauen waren so direkt und extravagant — Ellie selbst blieb aus unerfindlichen Gründen davon ausgeschlossen, was sie gleichzeitig freute und ärgerte —, daß sie immer ohne Schwierigkeiten nein sagen konnten. Viele sagten ja. Was Waygay von Meera erzählte, überraschte Ellie allerdings doch etwas.
Sie hatten den Morgen damit verbracht, in einem letzten Durchgang die Notizen und Interpretationen zu den neuesten Daten noch einmal zu vergleichen. Die weiterhin kontinuierliche Übertragung der BOTSCHAFT hatte ein neues, bedeutendes Stadium erreicht. Jetzt wurden Diagramme von der Wega gesendet, so wie für Zeitungen Bilder über Funk übertragen wurden. Jedes Bild stellte ein gerastertes Feld dar. Die Anzahl der winzigen schwarzen und weißen Punkte, aus denen das Bild bestand, war das Produkt zweier Primzahlen. Wieder spielten also Primzahlen eine Rolle bei der Übertragung. Es gab eine ganze Reihe solcher Diagramme, die aber nicht auf bestimmte Buchseiten bezogen zu sein schienen. Es sah mehr nach einem aufwendigen Bildteil aus, der dem Text folgte. Nach der Übertragung der langen Sequenz von Diagrammen ging es weiter mit dem noch immer unverständlichen Text. Aus einigen Diagrammen war klar zu ersehen, daß Waygay und Archangelski mit ihrer Vermutung recht gehabt hatten, daß die BOTSCHAFT zumindest in Teilen Anweisungen und Konstruktionszeichnungen für den Bau einer Maschine enthielt. Vom Zweck der Maschine hatte man keine Vorstellung. In der Plenarsitzung des Weltkonsortiums, die am folgenden Tag im Elysee-Palast stattfinden würde, sollten Ellie und Waygay zum ersten Mal den Abgeordneten der anderen Mitgliedsnationen des Konsortiums über Einzelheiten berichten. Über die „Maschinen-Hypothese“ waren bereits Gerüchte im Umlauf.
Beim Mittagessen hatte Ellie kurz über ihre Begegnung mit Rankin und Joss berichtet. Waygay hatte aufmerksam zugehört, aber keinen Kommentar geäußert. Sie kam sich vor, als hätte sie etwas gesagt, was sich nicht gehörte, und vielleicht hatte das in Waygay die Assoziation mit Meera ausgelöst.
„Sie haben also eine Freundin namens Meera, die Stripteasetänzerin ist und auf allen internationalen Showplätzen anzutreffen ist?“
„Seit Wolfgang Pauli das Ausschließungsprinzip entdeckt hat, während er im Folies-Bergere saß, empfinde ich als Physiker es als meine Pflicht, so oft wie möglich nach Paris zu kommen. Für mich ist es eine Hommage an Pauli. Leider kann ich die offiziellen Stellen in meinen Land nicht davon überzeugen, daß Reisen allein aus diesem Grund genehmigt werden müssen. Ich muß daneben immer noch etwas langweilige Physik betreiben. Aber in diesen Etablissements — wo ich auch Meera kennengelernt habe — bin ich Student der Natur, der auf die Inspiration wartet.“ Plötzlich änderte sich sein Tonfall von überschwenglich zu sachlich. „Meera sagt, daß die amerikanischen Akademiker männlichen Geschlechts sexuell verklemmt sind und quälende Selbstzweifel und Schuldgefühle haben.“
„Tatsächlich? Und was sagt Meera über die russischen Akademiker?“
„In dieser Kategorie kennt sie nur mich. Da hat sie natürlich eine gute Meinung. Ich wäre morgen lieber mit Meera zusammen.“
„Aber Sie werden auf der Versammlung des Konsortiums all Ihre Freunde treffen“, erwiderte Ellie lachend. „Das schon. Ich bin froh, daß wenigstens Sie mit dabei sind“, sagte er mürrisch. „Was bedrückt Sie, Waygay?“
Er zögerte lange, bevor er antwortete, was ganz untypisch für ihn war. „Bedrücken ist vielleicht zu viel gesagt, aber zu denken gibt es mir. Was ist, wenn die BOTSCHAFT wirklich Konstruktionspläne für eine Maschine enthält? Werden wir die Maschine dann bauen? Wer wird sie bauen?
Alle zusammen? Das Konsortium? Die Vereinten Nationen? Oder einige Länder um die Wette? Und wenn es wahnsinnig teuer ist, das Ding zu bauen? Wer wird es bezahlen? Und warum? Und wenn die Maschine dann nicht funktioniert? Werden alle Nationen den Bau der Maschine wirtschaftlich verkraften? Gibt es möglicherweise noch andere negative Auswirkungen?“
Ohne die Flut seiner Fragen zu unterbrechen, goß Lunatscharski den letzten Wein in die Gläser. „Selbst wenn die Übertragung der Botschaft wieder von vorn anfängt und wir sie vollständig entschlüsseln können, wie gut würde die Übersetzung sein? Kennen Sie jene Äußerung von Cervantes? Er sagt, daß das Lesen einer Übersetzung der Untersuchung der Rückseite eines Gobelins entspreche. Vielleicht läßt sich die BOTSCHAFT nicht perfekt übersetzen. Dann könnten wir die Maschine auch nicht vollkommen richtig bauen. Sind wir außerdem wirklich sicher, daß wir alle Daten haben? Vielleicht gibt es noch wichtige Informationen auf anderen Frequenzen, die wir gar nicht entdeckt haben. Wissen Sie, Ellie, bisher habe ich wie selbstverständlich angenommen, man würde beim Bau dieser Maschine sehr vorsichtig und zurückhaltend ans Werk gehen. Aber vielleicht kommt schon morgen jemand, der auf den sofortigen Bau drängt — vorausgesetzt natürlich, wir bekämen den Code und könnten die BOTSCHAFT entschlüsseln. Was wird die amerikanische Delegation vorschlagen?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Ellie langsam. Aber sie erinnerte sich, daß Der Heer sofort nach dem Empfang der Diagramme gefragt hatte, ob ein Bau der Maschine innerhalb der ökonomischen und technologischen Möglichkeiten der Menschen lag. Weder das eine noch das andere hatte sie ihm zusichern können. Ihr fiel wieder ein, wie zerstreut und nervös Ken in den letzten Wochen gewesen war. Manchmal schien er nahe daran, die Nerven zu verlieren. Natürlich war seine Verantwortung in dieser Sache — „Wohnen Dr. Der Heer und Mr. Kitz in demselben Hotel wie Sie?“
„Nein, sie wohnen in der Botschaft.“
Es war immer das gleiche. Aufgrund des Zustands der sowjetischen Wirtschaft und der Notwendigkeit, mit ihren begrenzten Devisen Waffen statt Konsumgüter zu kaufen, verfügten die Russen bei ihren Besuchen im Westen nur über wenig frei verfügbare Devisen. Sie mußten in zweit- oder drittklassigen Hotels oder noch billigeren Absteigen wohnen, während ihre westlichen Kollegen sich einen vergleichsweise luxuriösen Lebensstil erlauben konnten. Das war für beide Seiten immer peinlich. Die Rechnung für die relativ einfache Mahlzeit zu bezahlen, die sie zu sich genommen hatten, war für Ellie kein Problem, für Waygay aber bedeutete es trotz seiner bevorzugten Position in der Hierarchie der sowjetischen Wissenschaftler eine Belastung. Aber was wollte Waygay.