Aus der Erfahrung der letzten Monate wußte Ellie, die schon oft über dieses Thema diskutiert hatte, daß Wissenschaftler wie Laien von einzelnen Daten der BOTSCHAFT völlig fasziniert waren, daß sie sich aber ebenso wie sie selbst mit der Frage abquälten, ob auch eine Anleitung zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT mitgeliefert worden war. Die Reaktion dieses Publikums von, wie man meinen sollte, erfahrenen Fachleuten traf sie jedoch völlig unvorbereitet. Als sie und Waygay fertig waren, brach stürmischer Applaus los. Die sowjetischen und osteuropäischen Delegationen applaudierten unisono mit einer Frequenz von zwei bis drei Mal pro Herzschlag. Die Amerikaner und viele andere klatschten wild durcheinander wie ein Meer von weißem Rauschen. Ellie verspürte eine ihr bisher unbekannte Freude, aber trotzdem mußte sie unwillkürlich an die Unterschiede der Nationalcharaktere denken — die Amerikaner waren die Individualisten, und die Russen hatten sich zu einer kollektiven Aktion zusammengeschlossen. Ellie erinnerte sich, daß die Amerikaner auch in Massenversammlungen versuchten, möglichst Distanz zu den anderen zu wahren, während die Sowjets sich gern aneinander anlehnten. Ihr gefielen beide Arten zu applaudieren, obwohl die amerikanische hörbar dominierte. Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, an ihren Stiefvater zu denken. Und an ihren Vater. Nach dem Mittagessen wurden in weiteren Vorträgen Interpretationen zu der Datensammlung vorgestellt. David Drumlin hielt einen hochinteressanten Vortrag über die statistische Analyse, die er gerade mit jenen Seiten der BOTSCHAFT durchgeführt hatte, die in Beziehung zu den neuen, numerierten Diagrammen standen. Er behauptete, daß die BOTSCHAFT nicht nur Konstruktionspläne für den Bau einer Maschine enthielte, sondern auch detaillierte Beschreibungen zu Design und Herstellung einzelner Komponenten. In einigen Fällen, glaubte er, handelte es sich um die Beschreibung völlig neuer Industriezweige, die man auf der Erde bisher nicht kannte. Auf Ellies Gesicht malte sich Staunen. Fragend sah sie Valerian an und zeigte mit dem Finger auf Drumlin: Hatte Valerian das schon gewußt? Valerian hob nur verneinend die Hände. Ellie schaute sich unter den anderen Delegierten um, aber außer Ermüdung konnte sie keine besonderen Reaktionen feststellen. Der technische Aufwand und die Notwendigkeit, früher oder später politische Entscheidungen treffen zu müssen, sorgten schon jetzt für erste Spannungen. Nach der Sitzung gratulierte sie Drumlin zu seiner Entdeckung und fragte ihn, warum sie bis jetzt nichts davon erfahren hatte. Schon im Weggehen, antwortete er: „Oh, ich hielt es nicht für wichtig genug, Sie damit zu belasten. Es war nur eine kleine Spielerei, an der ich herumgebastelt habe, als Sie weg waren, um mit diesen religiösen Fanatikern zu reden.“
Wenn Drumlin ihr Doktorvater gewesen wäre, würde sie immer noch an ihrer Doktorarbeit sitzen, dachte Ellie grimmig. Er hatte sie nie wirklich akzeptiert. Sie würden nie eine unkomplizierte, kollegiale Beziehung zueinander haben. Sie seufzte. Hatte Ken von Drumlins neuen Erkenntnissen gewußt? Als einer der Präsidenten der Konferenz saß Der Heer zusammen mit seinem sowjetischen Kollegen vorn auf einem erhöhten Podium, von wo aus man die im Hufeisen angeordneten Tische der Delegierten überblicken konnte. Er war, wie schon die ganzen letzten Wochen, fast nie erreichbar. Und Drumlin war natürlich nicht verpflichtet, neugewonnene Erkenntnisse mit ihr zu diskutieren. Sie wußte, daß beide Männer in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen waren.
Aber warum war sie in Gesprächen mit Drumlin immer entweder extrem entgegenkommend oder extrem streitlustig? Etwas in ihr spürte deutlich, daß die Möglichkeit, ihren wissenschaftlichen Interessen nachzugehen, auch in Zukunft entscheidend von Drumlin abhängen würde.
Am Vormittag des zweiten Tages wurde einem sowjetischen Delegierten das Wort erteilt. Ellie kannte ihn nicht. „Stefan Alexejewitsch Baruda“, tauchte auf dem Bildschirm vor ihr auf, „Direktor des Instituts für Friedensforschung, Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Moskau, Mitglied des Zentralkomitees der KP der UdSSR“. „Na, jetzt geht es hart auf hart“, hörte Ellie Michael Kitz zu Elmo Honicutt vom Außenministerium sagen. Baruda war eine elegante Erscheinung. Er trug einen modisch geschnittenen Straßenanzug, mit Sicherheit ein Produkt des Westens, möglicherweise aus Italien. Sein Englisch war fließend und fast akzentfrei. Geboren in einer der baltischen Republiken, war er noch sehr jung dafür, daß er bereits Direktor einer so bedeutenden Organisation war, die man gegründet hatte, um die langfristigen strategischen Folgen der nuklearen Abrüstung zu untersuchen. Gleichzeitig war er ein besonders typischer Vertreter der neuen Politik der sowjetischen Führung.
„Fangen wir noch einmal von Anfang an“, sagte Baruda. „Wir bekommen also eine BOTSCHAFT aus den Tiefen des Alls. Die meisten Informationen haben die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten zusammengetragen. Wesentliche Teile haben aber auch andere Länder beigesteuert. Und alle diese Länder sind hier auf dieser Konferenz vertreten. Jede einzelne Nation — wie zum Beispiel die Sowjetunion — hätte warten können, bis sich die BOTSCHAFT mehrere Male wiederholt hat. Auch so hoffen wir ja darauf, daß sie wiederholt wird und wir die vielen fehlenden Teile ergänzen können. Aber ohne Kooperation hätte es Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte gedauert, bis wir die ganze BOTSCHAFT zusammengehabt hätten, und wir sind doch alle ein bißchen ungeduldig. Deshalb haben wir die Daten ausgetauscht.
Jede einzelne Nation — wie zum Beispiel die Sowjetunion — könnte riesige Radioteleskope mit hochempfindlichen Empfängern für den Frequenzbereich der BOTSCHAFT in die Erdumlaufbahn schicken. Die Amerikaner könnten das ebenso wie wir. Vielleicht auch die Japaner, die Franzosen oder die Europäische Weltraumbehörde. Dann könnte jede Nation für sich selbst alle Daten bekommen, weil Radioteleskope im Weltraum die Wega die ganze Zeit über anpeilen könnten. Aber man könnte das als feindselige Handlung auslegen. Und es ist kein Geheimnis, daß die Vereinigten Staaten oder die Sowjetunion in der Lage wären, solche Satelliten einfach abzuschießen. Vielleicht auch deshalb haben wir die Daten ausgetauscht.
Es ist besser, zusammenzuarbeiten. Unsere Wissenschaftler wollen nicht nur die Daten, die sie angehäuft haben, austauschen, sondern auch ihre Spekulationen, ihre Vermutungen, ihre. Träume. Darin seid ihr Wissenschaftler euch alle gleich. Ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin ein Fachmann der Regierung. Deshalb weiß ich, daß auch die Regierungen aller Nationen in vielem gleich sind. Jede Nation ist vorsichtig. Jede Nation ist mißtrauisch. Keiner von uns wird einem potentiellen Gegner einen Vorteil einräumen, wenn er es verhindern kann. Und deshalb gibt es auch zwei verschiedene Meinungen zu unserem Thema — vielleicht auch mehr, aber mindestens zwei: eine Partei, die zum Austausch aller Daten rät, und eine andere, die rät, zuerst an den eigenen Vorteil zu denken. Mitglieder der letzteren sagen, daß man mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß die Gegenseite auch auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Das ist in den meisten Ländern so. Die Wissenschaftler haben hier für die Politiker entschieden. So wurden beispielsweise fast alle Daten — ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen: nicht alle —, die die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bekommen haben, ausgetauscht. Die meisten Daten der anderen Länder wurden weltweit ausgetauscht. Wir sind glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben.“ Ellie flüsterte Kitz zu: „Meinen Sie das mit ‚hart auf hart’?“
„Warten Sie ab“, flüsterte er zurück.
„Aber es gibt noch andere Gefahren. Wir möchten dem Konsortium gern die eine oder andere zu bedenken geben.“ Barudas Tonfall erinnerte Ellie an Waygay gestern beim Mittagessen. Was war es eigentlich, das der russischen Delegation so auf dem Herzen lag?