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Das Delta-1-Isomer
Beim Anblick der Sterne verfalle ich ins Träumen, genauso wie ich bei den schwarzen Punkten ins Träumen komme, die auf einer Landkarte Städte und Dörfer markieren. Warum, frage ich mich, sollten die leuchtenden Punkte am Himmel nicht genauso erreichbar sein wie die schwarzen Punkte auf der Landkarte von Frankreich.
Es war ein strahlender Herbstnachmittag und so ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, daß Devi Sukhavati ihren Mantel im Hotel gelassen hatte. Ellie und Devi Sukhavati schlenderten auf den bevölkerten Champs-Elysees in Richtung Place de la Concorde. Ein solch buntes Völkergemisch sah man sonst nur noch in London, Manhattan und wenigen anderen Großstädten der Erde. Zwei Frauen, die Arm in Arm gingen und von denen die eine Rock und Pullover und die andere einen Sari trug, fielen hier überhaupt nicht auf. Vor einem Tabakladen standen in einer langen, ordentlichen Schlange Menschen, die in allen möglichen Sprachen durcheinander redeten; seit einer Woche war der Verkauf von Haschischzigaretten aus den Vereinigten Staaten legalisiert. Das französische Gesetz verbot nur den Verkauf an Jugendliche unter achtzehn. Die meisten in der Schlange waren deshalb mittleren Alters oder älter. Einige waren wahrscheinlich naturalisierte Algerier oder Marokkaner.
Besonders starke Hanfsorten für den Export wurden hauptsächlich in Kalifornien und Oregon angebaut. In dem Tabakladen wurde eine neue Sorte angepriesen, die mit ultraviolettem Licht bestrahlt worden war, wodurch sich die inaktiven Cannabinoide in Delta-1 Isomere verwandelt hatten. Die Sorte hieß „Sonnenkuß“. Auf der anderthalb Meter großen Riesenpackung im Schaufenster stand in Französisch der Slogan: „Das wird Ihnen im Paradies abgezogen“. Die Schaufenster auf dem Boulevard prangten in den schreiendsten Farben, Die zwei Frauen kauften bei einem Straßenhändler eine Tüte Kastanien und schwelgten in deren Duft und Geschmack. Immer wenn Ellie eine Reklame für die BNP, die Banque Nationale de Paris, sah, las sie aus einem unerfindlichen Grund das russische Wort für Bier, in dem nur der mittlere Buchstabe von links nach rechts gedreht war. Hier gibt es Bier, schienen die Buchstaben zu sagen, die bis vor kurzem noch für eine seriöse Bank geworben hatten, russisches Bier. Der Kontrast amüsierte sie, und nur mit Mühe konnte sie den für das Lesen zuständigen Teil ihres Gehirns davon überzeugen, daß es sich um das lateinische, nicht das kyrillische Alphabet handelte. Ein Stück weiter bewunderten sie den Obelisken — eine antike militärische Gedenksäule, deren Diebstahl teuer bezahlt worden war, damit eine moderne militärische Gedenksäule daraus hatte werden können. Sie gingen weiter.
Der Heer hatte die Verabredung mit Ellie abgesagt, zumindest war es darauf hinausgelaufen. Er hatte sie am Morgen angerufen und sich entschuldigt, aber keinen besonders niedergeschlagenen Eindruck gemacht. Die Plenarsitzung habe so viele politische Probleme aufgeworfen, die vordringlich besprochen werden müßten. Der Außenminister würde seinen Aufenthalt auf Kuba unterbrechen und morgen nach Paris kommen. Er habe alle Hände voll zu tun, und er hoffe, Ellie habe dafür Verständnis. Sie hatte. Und sie haßte sich dafür, daß sie immer noch mit ihm schlief. Um den Nachmittag nicht allein verbringen zu müssen, hatte sie Devi Sukhavati angerufen.
„Eines der Wörter für siegreich in Sanskrit ist abhijit. So hieß im alten Indien auch die Wega. Abhijit. Unter dem Einfluß der Wega bezwangen die Hindugötter, die Helden unserer Kultur, die Asuras, die Götter des Bösen. Ellie, hören Sie mir überhaupt zu?. Kurioserweise gibt es auch in Persien Asuras. Aber in Persien sind sie die Götter des Guten. Dann entwickelten sich Religionen, in denen der höchste Gott, der Gott des Lichtes oder Sonnengott, Ahura-Masda hieß. Zum Beispiel der Zoroastrismus und der Mithraskult. Ahura und Asura bedeuten dasselbe. Anhänger des Zoroastrismus gibt es heute noch, und die Anhänger des Mithraskultes haben den frühen Christen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber in jener Geschichte werden die Hindugötter, die übrigens vornehmlich weiblich sind, Devis genannt. Daher kommt auch mein eigener Name. In Indien sind die Devis Götter des Guten. In Persien wurden sie zu Göttern des Bösen. Einige Gelehrte glauben, daß das englische Wort devil hier seinen Ursprung hat. Die Entsprechungen gehen quer durch die Sprachen. Wahrscheinlich liegt dem allen eine vage Erinnerung an die Invasion der Arier zugrunde, die die Drawiden, meine Vorfahren, in den Süden verdrängten. Also, je nachdem, auf welcher Seite der Kirthar-Kette man lebt, unterstützt die Wega entweder Gott oder den Teufel.“ Offenbar hatte Devi von Ellies religiösen Abenteuern in Kalifornien gehört und wollte sie jetzt mit dieser lustigen Geschichte unterhalten. Ellie war ihr dafür dankbar. Aber es erinnerte sie auch daran, daß sie Joss gegenüber die Möglichkeit, daß die BOTSCHAFT der Konstruktionsplan für eine Maschine mit unbekanntem Zweck sein könnte, nicht einmal erwähnt hatte. Jetzt würde er es durch die Medien erfahren. Eigentlich hätte sie ihn anrufen und ihm die neuesten Entwicklungen erklären müssen. Aber Joss hatte sich laut Presseberichten an einen abgeschiedenen Ort zurückgezogen. Er hatte nach ihrer Zusammenkunft in Modesto keine öffentliche Erklärung abgegeben. Rankin hatte in einer Pressekonferenz verkündet, daß er trotz aller Gefahren nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Wissenschaftler die BOTSCHAFT empfingen. Mit der Übersetzung sei es allerdings etwas anderes. Hier sei seiner Meinung nach die regelmäßige Überwachung durch alle Schichten der Gesellschaft erforderlich, vor allem durch jene, die mit der Wahrung der geistigen und moralischen Werte betraut seien, Sie kamen jetzt in die Tuilerien, die in herbstlichen Farben leuchteten. Drei alte, gebrechliche Männer — dem Aussehen nach zu schließen Südostasier — führten einen erregten Wortwechsel. Die alten schmiedeeisernen Tore waren geschmückt mit bunten, zum Verkauf angebotenen Luftballons. In der Mitte eines Wasserbeckens stand eine marmorne Statue der Amphitrite. Um sie herum schaukelten kleine Segelschiffe im Wasser, mit denen eine ausgelassene Schar kleiner Jungen und Mädchen die Erdumsegelung Magellans probte. Plötzlich schoß ein dicker Wels aus dem Wasser und brachte die Boote zum Kentern. Die Kinder erschraken über die völlig unerwartete Erscheinung und verstummten. Die Sonne stand schon tief im Westen, und Ellie fröstelte leicht. Sie gingen weiter zur Orangerie, in deren Nebengebäude eine Sonderausstellung stattfand. „Bilder vom Mars“ verkündete das Plakat. Die auf den Mars gebrachten Fahrzeuge, ein Gemeinschaftsprojekt der Vereinigten Staaten, Frankreichs und der Sowjetunion, hatten völlig unerwartet spektakuläre Farbaufnahmen zur Erde gefunkt. Einige davon waren wie die 1980 gesendeten Bilder des Voyager vom äußeren Sonnensystem nicht nur von wissenschaftlichem Nutzen, sondern darüber hinaus von solcher Schönheit, daß sie Kunstwerken gleichkamen. Das Ausstellungsplakat zeigte eine Landschaft, die auf dem riesigen Elysium-Plateau photographiert worden war. Im Vordergrund sah man eine dreiseitige Pyramide. Sie war alt und verwittert und zeigte dicht über dem Boden einen Einschlagkrater. Nach Ansicht der Experten war sie in Jahrmillionen von den Marswinden wie durch ein Sandstrahlgebläse geformt worden. Ein zweites Fahrzeug war im Bereich Cydonia auf der anderen Seite des Mars in einer Wanderdüne steckengeblieben, und das Kontrollzentrum in Pasadena war bisher nicht in der Lage gewesen, auf die verzweifelten Hilferufe zu reagieren. Ellie war von Devis Erscheinung, von ihren großen schwarzen Augen, ihrer geraden Haltung und dem prächtigen Sari fasziniert. So gut sah sie selbst nicht aus, mußte sie sich gestehen. Sonst konnte sie immer ihren Teil zu einer Unterhaltung beitragen, auch wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Aber heute tat sie sich schwer, auch nur einem Gedanken zu folgen, von zweien ganz zu schweigen. Während sie über den Streit diskutierten, der um den Bau der Maschine entbrannt war, mußte sie immer wieder an die Invasion der Arier in Indien vor 3500 Jahren denken, von der Devi gesprochen hatte: ein Krieg zweier Völker, die beide den Sieg für sich beansprucht und ihre historischen Berichte dementsprechend patriotisch zurechtgebogen hatten. Zuletzt wurde die Geschichte dann zu einem Krieg der Götter umgestaltet. „Unsere“ Seite war natürlich die gute. Die andere Seite die böse. Ellie malte sich aus, wie der spitzbärtige Teufel des Westens mit Schwanz und Pferdefuß sich langsam aus seinem hinduistischen Vorfahren entwickelt hatte, der, soweit sie wußte, den Kopf eines Elefanten hatte und blau angemalt war.