Die BOTSCHAFT wiederholte sich exakt, die Lücken wurden geschlossen, aber niemand konnte ein Wort davon lesen. Dabei war kaum anzunehmen, daß die sendende Zivilisation, die sonst so penibel war, die Notwendigkeit eines Schlüssels einfach übersehen hatte. Zumindest die OlympiaSendung und die Gestaltung des Innenraums der Maschine schienen speziell auf die Menschen zugeschnitten zu sein. Man würde sich doch wohl kaum die Mühe machen, sich eine Botschaft auszudenken und zu senden, ohne irgendwelche Vorkehrungen zu treffen, daß die Menschen sie auch lesen konnten. Deshalb mußte etwas übersehen worden sein. Sehr bald gelangte man zu der allgemeinen Überzeugung, daß der Palimpsest noch eine vierte Schicht haben mußte. Aber wo?
Die Diagramme waren in einer achtbändigen Prachtausgabe veröffentlicht worden, die bald auf der ganzen Welt nachgedruckt wurde. Überall auf der Erde versuchten Menschen, den Bildern auf die Spur zu kommen. Das Dodekaeder und die quasibiologischen Formen wirkten besonders anregend. Aus der Öffentlichkeit kamen viele kluge Anregungen, die das Argus-Team sorgfältig prüfte. Daneben kam es freilich vor allem in den Wochenzeitungen zu ebenso vielen haarsträubenden und oberflächlichen Interpretationen. Völlig neue Industrien schossen aus dem Boden — sicher nicht im Sinne der Erfinder der BOTSCHAFT —, die nur darauf aus waren, die Öffentlichkeit zu betrügen. In einer feierlichen Zeremonie kam es zur Gründung des Ordens vom Heiligen Dodekaeder. Für andere war die Maschine ein UFO oder das Rad des Ezechiel. In Brasilien offenbarte ein Engel die Bedeutung der BOTSCHAFT und der Diagramme einem Geschäftsmann, der seine Interpretation — am Anfang noch auf eigene Kosten — in der ganzen Welt vertrieb. Bei soviel geheimnisvollem Bildmaterial ließ es sich nicht vermeiden, daß viele Religionen in der BOTSCHAFT von den Sternen ihre eigene Ikonographie zu erkennen glaubten. Eine Querschnittzeichnung der Maschine sah wie eine Chrysantheme aus, was besonders in Japan viel Begeisterung hervorrief. Wenn auch noch ein menschliches Gesicht unter den Diagrammen aufgetaucht wäre, wäre der messianische Eifer in Massenhysterie umgeschlagen.
Tatsächlich liquidierten erstaunlich viele Geschäftsleute ihre Unternehmen in Erwartung der Wiederkunft Christi. Weltweit sank die Produktivität der Industrie. Viele hatten ihr Hab und Gut an die Armen verschenkt und mußten, als sich das Ende der Welt verzögerte, bei wohltätigen Einrichtungen oder dem Staat Hilfe suchen. Da diese Art Schenkungen häufig an solche Wohltätigkeitseinrichtungen ging, konnte es manchen dieser Philanthropen passieren, daß sie von ihrer eigenen Schenkung am Leben erhalten wurden. Delegationen drängten Staatsoberhäupter, die Spaltung der Kirche oder den Welthunger bis zum Erscheinen Christi auf Erden zu beenden, da man andernfalls für nichts garantieren könne. Andere kamen mehr im stillen zu dem Schluß, daß sich, wenn die ganze Welt tatsächlich für ein Jahrzehnt verrückt spielen wollte, daraus ein beachtlicher finanzieller oder nationaler Gewinn ziehen ließ.
Einige Leute behaupteten, daß es gar keinen Schlüssel gebe und alles nur dazu da sei, die Menschen Demut und Bescheidenheit zu lehren oder sie in den Wahnsinn zu treiben. In Leitartikeln von Zeitungen wurden Überlegungen angestellt, daß die Menschen doch nicht so klug waren, wie sie glaubten, und ein gewisser Unmut gegen die Wissenschaftler wurde laut, die die Welt trotz der großzügigen Unterstützung seitens der Regierungen in dieser Notsituation im Stich ließen. Oder vielleicht waren die Menschen noch dümmer, als die Wegianer schon einkalkuliert hatten. Vielleicht gab es einen entscheidenden Punkt, der allen anderen, noch in der Entstehung begriffenen Zivilisationen, die so kontaktiert worden waren, völlig klar gewesen war, etwas, das bisher noch keiner anderen Welt der ganzen Geschichte der Galaxis entgangen war. Einige Kommentatoren vertraten diese Ansicht einer Demütigung der Erde vor dem ganzen Kosmos mit regelrechter Begeisterung. Sie sagten dabei nur offen, was sie in versteckterer Form schon immer über die Menschen gesagt und gedacht hatten. Nach einiger Zeit beschloß Ellie, sich nach Hilfe umzusehen.
Heimlich stahlen sie sich durch das Enlil-Tor. Begleitet wurden sie von einer Eskorte, die der Besitzer geschickt hatte. Der Beamte vom Allgemeinen Sicherheitsdienst war gereizt trotz oder gerade wegen der zusätzlichen Eskorte. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, waren die schmutzigen Straßen bereits von Öllampen und tropfenden Fackeln erleuchtet. Zwei Amphoren, von denen jede so groß war, daß ein ausgewachsener Mensch hineinpaßte, flankierten den Eingang zu einem Geschäft, in dem Olivenöl verkauft wurde. Die Reklame war in Keilschrift geschrieben. Das benachbarte öffentliche Gebäude war mit einem herrlichen Basrelief einer Löwenjagd aus der Regierungszeit König Assurbanipals geschmückt. Als sie sich dem Tempel von Assur näherten, war auf dem Platz davor gerade eine Schlägerei im Gange, und sie mußten mit ihrer Eskorte einen großen Bogen machen. Ellie hatte jetzt einen ungehinderten Blick auf die Zikkurat am Ende einer breiten, von Fackeln erleuchteten Prachtstraße. Es war noch atemberaubender als auf den Bildern. Ein kriegerischer Fanfarenstoß tönte aus einem Ellie unbekannten Blasinstrument. Dann rumpelte ein von einem Pferd gezogener Wagen vorbei, auf dem drei Männer standen. Der Wagenlenker trug eine phrygische Kopfbedeckung. Wie auf mittelalterlichen Darstellungen des Buches Genesis, auf denen Gott mahnend zu den Menschen sprach, war die Spitze der Zikkurat in dunkle Wolken gehüllt. Sie verließen die Straße von Ischtar und betraten die Zikkurat durch einen Seiteneingang. In dem Privataufzug drückte ihre Eskorte den Knopf für das oberste Stockwerk: Das Wort „Vierzig“ leuchtete auf. Keine Zahlen. Nur das Wort. Und dann leuchtete, um jeden Zweifel auszuschließen, auf einer Tafel auf: „Die Götter“. Mr. Hadden würde gleich kommen. Ob sie etwas zu trinken wünschte, während sie auf ihn wartete? In Anbetracht des Rufes, den dieser Platz genoß, lehnte Ellie ab. Zu ihren Füßen lag Babylon — die, wie jedermann bestätigen konnte, der hier gewesen war, wirklich hervorragend gelungene Nachschöpfung des seit langem untergegangenen Ortes. Tagsüber kamen ganze Busladungen von Museumsbesuchern, Schülern und Touristen am Ischtartor an, wo die Besucher zeitgemäß eingekleidet und dann auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt wurden. Hadden spendete in weiser Voraussicht alle Einnahmen seiner Tageskundschaft an Wohltätigkeitseinrichtungen in New York City und Long Island. Die Tagestouren erfreuten sich größter Beliebtheit, boten sie doch unter anderem auch jenen Leuten die Möglichkeit, den Ort zu besuchen, die nicht im Traum darauf gekommen wären, sich nachts nach Babylon zu wagen. Nach Einbruch der Dunkelheit verwandelte sich Babylon in einen Vergnügungspark für Erwachsene. Hier gab es alles, was das Herz begehrte. Der Park stellte selbst die Reeperbahn in Hamburg an Größe, Üppigkeit und Einfallsreichtum in den Schatten. Er war mit Abstand die größte Touristenattraktion im Stadtgebiet von New York und zahlte die mit Abstand höchste Gewerbesteuer. Wie Hadden die Stadtväter New Yorks für Babylon gewonnen und sich eine Lobby für eine „Lockerung“ der regionalen und staatlichen Prostitutionsgesetze verschafft hatte, war allgemein bekannt. Die Fahrt vom Zentrum Manhattans zum Ischtartor dauerte mit dem Zug eine halbe Stunde. Ellie hatte trotz der flehentlichen Bitten des Sicherheitsbeamten darauf bestanden, den Zug zu nehmen. Auf der Fahrt stellte sie fest, daß ein Drittel der Besucher Frauen waren. Die Züge waren nicht mit Graffiti verziert, und es bestand kaum die Gefahr, überfallen zu werden, aber dafür gab es auch nur ein wirklich zweitklassiges weißes Rauschen verglichen mit den Zügen der New Yorker U-Bahn.