„Ich habe mich bewegt“, sagte sie enttäuscht, als das Pendel wieder von ihr wegschwang. „Nur ein kleines bißchen.“
„Nein, ich habe mich bewegt.“
„Sie glauben wirklich. Sie glauben an die Wissenschaft. Sie haben nur einen ganz leisen Zweifel.“
„Nein, es ist etwas anderes. Hier haben eine Million Jahre Intellekt gegen eine Milliarde Jahre Instinkt angekämpft. Deshalb haben Sie es auch viel leichter als ich.“
„In dem Punkt haben wir es gleich schwer. Aber jetzt bin ich dran“, sagte er und zog das Pendel rasselnd bis zum höchsten Punkt der Bahn, die es durchmessen würde. „Aber Ihren Glauben an die Erhaltung der Energie testen wir nicht.“
Er lächelte und suchte mit seinen Füßen nach einem festen Halt.
„Was machen Sie denn da?“ fragte eine entrüstete Stimme über ihnen. „Sind Sie verrückt?“ Ein Museumswärter, der auf seinem Rundgang pflichtbewußt nachschaute, ob auch alle Besucher rechtzeitig das Museum verließen, stand vor dem ungewohnten Anblick eines Mannes und einer Frau, die in der Vertiefung vor dem Pendel in dem ansonsten völlig verlassenen Trakt des Gebäudes standen. „Oh, es ist alles in bester Ordnung“, entgegnete ihm Joss fröhlich. „Wir stellen nur unseren Glauben auf die Probe.“
„Das ist hier nicht erlaubt“, erwiderte der Wärter. „Es handelt sich hier um ein Museum.“
Joss und Ellie hielten das Pendel an und kletterten die schräge Steinwand hinauf.
„So etwas muß doch durch das Gesetz erlaubt sein“, sagte Ellie.
„Oder durch das erste Gebot“, meinte Joss. Ellie schlüpfte wieder in ihre Schuhe, hängte ihre Handtasche um und folgte mit hocherhobenem Kopf Joss und dem Wärter aus der Rotunde. Ohne sich zu erkennen zu geben oder erkannt zu werden, konnten sie ihm ausreden, sie beide unter Arrest zu stellen. Aber sie wurden von einer Phalanx uniformierter Museumsangestellter bis zur Tür geleitet, die fürchteten, Ellie und Joss könnten ihren seltsamen Gott als nächstes in der Dampfpfeifenorgel suchen.
Die Straße war menschenleer. Wortlos spazierten sie die Promenade entlang. Es war eine klare Nacht, und Ellie konnte die Leier ausfindig machen. „Der leuchtende Stern dort, das ist die Wega“, sagte sie. Joss betrachtete sie lange. „Die Entschlüsselung war eine brillante Leistung“, sagte er schließlich. „Ach, Unsinn. Es war geradezu trivial. Es war die einfachste Botschaft, die sich eine fortgeschrittene Zivilisation ausdenken konnte. Es wäre wirklich eine Schande gewesen, wenn wir nicht imstande gewesen wären, ihr auf die Spur zu kommen.“
„Mit Komplimenten werden Sie nicht besonders gut fertig, das habe ich schon gemerkt. Nein, das ist eine der Entdeckungen, die die Zukunft verändern. Zumindest unsere Erwartungen an die Zukunft. Wie die Entdeckung des Feuers, der Schrift oder des Ackerbaus. Oder Maria Verkündigung.“
Er schaute wieder hinauf zur Wega. „Wenn Sie einen Sitz in der Maschine bekämen und mit ihr zum Sender der BOTSCHAFT fliegen könnten, was glauben Sie, was Sie dort sehen würden?“
„Die Evolution ist ein stochastischer Prozeß. Es gibt zu viele Möglichkeiten, vernünftige Voraussagen über das Leben auf anderen Planeten zu machen. Wenn Sie die Erde vor dem Ursprung des Lebens gesehen hätten, hätten Sie dann eine Heuschrecke oder eine Giraffe vorhersehen können?“
„Aber ich kenne die Antwort auf diese Frage. Jetzt glauben Sie vermutlich, daß wir das alles erfinden, daß wir es in irgendwelchen Büchern gelesen oder an einer Gebetsstätte aufgeschnappt haben. Aber das stimmt nicht. Ich weiß die Antwort aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben.
Deutlicher kann ich es nicht sagen. Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen.“
An der Aufrichtigkeit seines Geständnisses gab es keine Zweifel.
„Erzählen Sie mir davon.“ Da erzählte er ihr seine Geschichte.
„Gut“, sagte Ellie schließlich, „Sie waren klinisch tot, erwachten dann wieder zum Leben und erinnern sich, daß Sie durch die Finsternis nach oben zu einem hellen Licht aufstiegen. Sie sahen ein helles Strahlen, das die Form einer menschlichen Gestalt hatte und das Sie für Gott hielten. Aber nichts in Ihrem Erlebnis hat Ihnen gesagt, daß dieses Strahlen das Universum erschaffen oder die Gesetze der Moral geschrieben hat. Ein Erlebnis ist ein Erlebnis. Sie waren ohne Frage zutiefst davon erschüttert. Aber es gibt noch andere mögliche Erklärungen.“
„Zum Beispiel?“
„Vielleicht könnte man es mit der Geburt vergleichen. Bei der Geburt bahnt sich der Säugling einen Weg durch einen langen, dunklen Tunnel einem strahlend hellen Licht entgegen. Sie dürfen nicht vergessen, wie strahlend hell es ist — das Baby hat neun Monate im Dunkeln verbracht. Die Geburt bedeutet die erste Begegnung mit dem Licht. Stellen Sie sich nur vor, wie erstaunt und ehrfürchtig Sie sein würden, wenn Sie jetzt zum ersten Mal Farben, Licht, Schatten oder ein menschliches Gesicht sähen — das zu erkennen wir wahrscheinlich von Anfang an programmiert sind. Vielleicht springt der Kilometerzähler für einen kurzen Augenblick zurück auf Null, wenn man auf der Schwelle des Todes steht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bestehe keinesfalls auf dieser Erklärung. Es ist nur eine unter vielen Möglichkeiten. Ich möchte damit nur darauf hinweisen, daß Sie Ihr Erlebnis vielleicht falsch interpretiert haben.“
„Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe.“ Wieder schaute er das kalte, blauweiß flackernde Licht der Wega an und dann Ellie.
„Fühlen Sie sich nicht manchmal. verloren in Ihrem Universum? Woher wissen Sie denn, was Sie tun sollen, wie Sie sich verhalten sollen, wenn es keinen Gott gibt? Einfach den Gesetzen gehorchen, weil man sonst eingesperrt wird?“
„Nicht diese Verlorenheit beunruhigt Sie, Palmer. Ihre größte Sorge ist, als Mensch nicht im Zentrum zu stehen und nicht der Grund zu sein, warum das Universum erschaffen wurde. In meinem Universum gibt es viele Ordnungssysteme. Die Gravitation, den Elektromagnetismus, die Quantenmechanik, die Weltformel, allem liegen Gesetze zugrunde. Und könnten wir nicht auch in Fragen der Ethik durch Nachdenken darauf kommen, was für uns als Menschen das Beste ist?“
„Das ist zweifellos eine warmherzige und noble Sicht der Welt, und ich bin der letzte, der abstreitet, daß die Menschen auch gut sein können. Aber wieviel Grausamkeit hat es in der Welt gegeben, als es die Liebe zu Gott nicht gab?“
„Und wieviel Grausamkeit, als es sie gab? Savonarola und Torquemada liebten Gott, haben sie zumindest behauptet. Ihre Religion geht davon aus, daß die Menschen Kinder sind und einen Schwarzen Mann brauchen, um im Zaum gehalten zu werden. Sie wollen, daß die Menschen an Gott glauben, damit sie den Gesetzen gehorchen. Das sind die einzigen Mittel, die Ihnen zur Verfügung stehen: eine strenge weltliche Polizei und die Androhung einer Bestrafung durch den alles sehenden Gott für das, was der Polizei entgeht. Sie verkaufen die Menschen für dumm.
Palmer, Sie glauben, weil ich Ihr religiöses Erweckungserlebnis nicht gehabt habe, könnte ich die Größe und Herrlichkeit Ihres Gottes nicht würdigen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Ich höre Ihnen zu und dann denke ich mir: Sein Gott ist zu klein! Ein armseliger Planet, ein paar tausend Jahre — das lohnt kaum die Aufmerksamkeit durch eine unbedeutendere Gottheit und schon gar nicht die des Schöpfers des Universums.“
„Jetzt werfen Sie mich aber mit anderen Predigern in einen Topf. Das Museum in Modesto war Bruder Rankins Territorium. Ich bin bereit, ein Universum anzuerkennen, das Milliarden von Jahren alt ist. Ich behaupte nur, daß die Wissenschaftler es noch nicht bewiesen haben.“
„Und ich behaupte, daß Sie den Beweis noch nicht verstanden haben. Worin liegt der Nutzen für die Menschen, wenn die traditionelle Gelehrsamkeit, die religiösen ‚Wahrheiten’ Lügen sind? Wenn Sie wirklich glauben, daß Sie es mit erwachsenen Menschen zu tun haben, dann müssen Sie anders predigen.“