Aber in der Nacht war Jesse da, stürmisch und übersprudelnd, eine Naturgewalt, die von Ellies Leben Besitz ergriffen hatte. In dem Jahr, das sie zusammen verbrachten, konnte sie sich an keine Nacht erinnern, in der er vorgeschlagen hatte, schlafen zu gehen. Er verstand nichts von Mathematik und Physik, aber die Welt, in der er lebte, sah er mit hellwachen Augen. Und eine Zeitlang konnte er Ellie dabei mitreißen.
Ellie träumte davon, diese zwei Welten in Einklang zu bringen. Sie träumte von Musikern und Physikern, die in menschlich harmonischem Einverständnis zusammenlebten. Aber auf den Einladungen, die sie manchmal abends organisierte, war die Stimmung steif, und die Gäste gingen früh.
Eines Tages sagte Jesse ihr, daß er sich ein Baby wünsche. Er wolle ernsthaft darangehen, eine geregelte Arbeit zu finden. Er könne sich sogar vorstellen zu heiraten. „Ein Baby?“ wiederholte sie. „Aber dann muß ich ja die Universität aufgeben. Es dauert noch Jahre, bis ich fertig bin. Und wenn ich ein Kind habe, bin ich vielleicht für immer draußen.“
„Das mag schon sein, aber wir hätten ein Kind. Du hättest zwar nicht mehr deine Seminare, aber dafür etwas anderes.“
„Jesse, ich brauche die Seminare“, erwiderte sie. Er zuckte die Achseln, und Ellie konnte fast sehen, wie ihr gemeinsames Leben von ihm abfiel und sich in Nichts auflöste. Ihr Beziehung hielt noch ein paar Monate, aber in dem kurzen Wortwechsel war bereits alles gesagt worden. Zum Abschied küßten sie sich, dann ging er nach Kalifornien. Sie hörte seine Stimme nie wieder.
Ende der 60er Jahre gelang es der Sowjetunion, Raumsonden auf der Oberfläche der Venus zu landen. Es waren die ersten Raumfahrzeuge der Menschheit, die in betriebsfähigem Zustand auf einem anderen Planeten aufsetzten. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatten amerikanische Radioastronomen von ihrem Standort auf der Erde aus entdeckt, daß die Venus eine Quelle intensiver Radiostrahlung war. Die verbreitetste Erklärung dafür war, daß die dichte Atmosphäre der Venus durch einen planetarischen Treibhauseffekt die Hitze festhielt. Nach dieser Theorie mußte die Planetenoberfläche stickig heiß sein, viel zu heiß für kristallene Städte und herumspazierende Venusianer. Ellie wäre eine andere Erklärung viel lieber gewesen, sie versuchte sich deshalb vorzustellen, wie die Radiostrahlung von irgendwo anders hoch über einer klimatisch milden Oberfläche herkommen könnte, jedoch ohne Erfolg. Einige Astronomen in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology waren der Überzeugung, daß keine der Alternativen zur Theorie von der glühendheißen Venus die intensive Radiostrahlung erklären konnte. Ellie erschien die Vorstellung eines so massiven Treibhauseffekts unwahrscheinlich und irgendwie abstoßend, als ob die Venus ein Planet wäre, der sich hemmungslos gehen ließ. Als aber die Raumsonde Venera dort landete und ein Thermometer ausfuhr, war die gemessene Temperatur so hoch, daß sie Zinn und Blei zum Schmelzen gebracht hätte. Ellie malte sich aus, wie sich die kristallenen Städte verflüssigten (obwohl es auf der Venus so heiß wiederum auch nicht war) und wie die Oberfläche von Silikattränen überflutet wurde. Sie war eine romantische Natur. Das wußte sie schon lange.
Aber zugleich mußte sie die Leistungsfähigkeit der Radioastronomie bewundern. Die Astronomen hatten zu Hause gesessen, ihre Radioteleskope auf die Venus gerichtet und die Oberflächentemperatur fast genauso exakt gemessen wie dreizehn Jahre später die Venera-Sonden. Ellie war, seit sie denken konnte, von Elektrizität und Elektronik fasziniert gewesen. Jetzt war sie zum ersten Mal tief beeindruckt von der Radioastronomie. Man konnte in aller Ruhe und Sicherheit auf dem eigenen Planeten stehen und das Teleskop mit den damit verbundenen elektronischen Geräten auf ein Ziel richten. Und dann kam Leben in die Empfänger, wenn die Informationen aus anderen Welten eintrafen. Von da an besuchte Ellie oft das kleine Radioteleskop der Universität im nahegelegenen Harvard in Massachusetts, in der, Hoffnung, vielleicht eine Einladung zu bekommen, bei den Beobachtungen und den Datenanalysen mitzuhelfen. Dann stellte das National Radio Observatory in Green Bank, West Virginia, sie für einen Sommer als bezahlte Assistentin an. Bei ihrer Ankunft dort besichtigte sie voller Begeisterung das Radioteleskop von Grote Reber, das er 1938 in seinem Garten in Wheaton in Illinois aufgebaut hatte. Jetzt sollte es daran erinnern, was ein engagierter Amateur alles zuwege bringen konnte. Reber hatte mit seiner Konstruktion die Radiostrahlung aus dem Zentrum der Galaxis nachweisen können, allerdings zu einer Zeit, als in dieser Gegend noch kein Auto gefahren und die diathermische Apparatur im Labor ein paar Häuser weiter noch nicht in Betrieb war. Das Zentrum der Galaxis war zwar viel leistungsfähiger, der mit hohen Frequenzen arbeitende Apparat aber viel näher. Die Atmosphäre ernsthafter und geduldiger Forschung am Observatorium und die gelegentliche Belohnung durch eine kleine Entdeckung sagten Ellie zu. Das Forscherteam war gerade damit beschäftigt zu messen, wie sich die Anzahl entfernter außergalaktischer Radioquellen erhöhte, wenn man tiefer in das Weltall schaute. Ellie begann darüber nachzudenken, wie man schwache Radioquellen leichter ausfindig machen könnte.
Zur gegebenen Zeit machte sie in Harvard ihren Collegeabschluß, cum laude, und ging dann zur Fortsetzung ihres Studiums der Radioastronomie ans andere Ende des Landes, zum California Institute of Technology.
Ein Jahr lang ging Ellie bei David Drumlin in die Lehre. Er genoß weltweit den Ruf, ein brillanter Kopf zu sein und keinen Dummkopf in seiner Umgebung leiden zu können. Im Gründe unterschied er sich freilich nicht von anderen Männern in Spitzenpositionen, die in der ständigen Angst leben, daß irgendwo irgend jemand noch intelligenter sein könnte als sie selbst. Drumlin machte Ellie mit den Kernfragen der Materie bekannt und vermittelte ihr ein theoretisches Fundament. Obwohl es Gerüchte gab, denen zufolge Frauen ihn charmant fanden, erlebte Ellie ihn meist aggressiv und egozentrisch. Sie sei zu romantisch, sagte er oft. Das Universum sei streng nach eigenen Gesetzen geordnet. Das Ziel sei, so zu denken wie das Universum und nicht eigene romantische Vorstellungen — oder mädchenhafte Sehnsüchte, wie er einmal sagte — in das Universum zu projizieren. Alles, was nicht durch die Naturgesetze verboten ist, versicherte er Ellie — und zitierte damit einen Kollegen vom selben Institut —, sei verbindlich. Aber, fuhr er fort, fast alles sei verboten. Sie schaute ihn an, während er ihr diesen Vortrag hielt, und versuchte dabei, ihre disparaten Eindrücke von ihm zum Gesamtbild seiner Persönlichkeit zusammenzusetzen. Sie hatte einen Mann vor sich, der blendend aussah mit seinem vorzeitig ergrauten Haar, dem zynischen Lächeln, der Lesebrille auf der Nasenspitze, der Fliege, dem kantigen Kinn und einer Aussprache, in der noch Reste des näselnden Akzents der Bevölkerung von Montana zu hören waren. Drumlins Vorstellung von Geselligkeit entsprach es, die fortgeschrittenen Studenten und jüngeren Fakultätsmitglieder zu sich nach Hause zum Abendessen einzuladen (anders als Ellies Stiefvater, der sich zwar gern von Studenten hofieren ließ, es aber für völlig übertrieben hielt, sie zum Abendessen zu bitten). Drumlin zeigte dabei das extreme Bedürfnis, sich auf den Gebieten seiner eigenen Forschung zu produzieren, indem er das Gespräch ständig auf Themen lenkte, in denen er der anerkannte Fachmann war, um dann widersprechende Ansichten schnell vom Tisch zu fegen. Nach dem Abendessen mußte man oft einen Diavortrag über Dr. D. als Sporttaucher auf Cozumel, Tobago oder dem Großen Barrier-Riff über sich ergehen lassen. Meist lachte und winkte er auf den Bildern in die Kamera, auch auf den Unterwasserbildern. Manchmal war auch eine Unterwasseransicht seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Helga Bork dabei. Gegen diese letzteren Dias protestierte Drumlins Frau immer mit dem den Tatsachen entsprechenden Argument, daß die meisten Gäste sie schon bei früheren Abendessen gesehen hätten. In Wirklichkeit hatten die Gäste nicht nur diese, sondern überhaupt alle Dias schon einmal gesehen. Drumlin antwortete darauf stets mit einem Lobpreis der sportlichen Vorzüge von Dr. Bork, was die Demütigung seiner Frau noch vergrößerte. Die meisten Studenten versuchten, sich trotzdem zu amüsieren, und suchten nach Details, die bei früheren Vorführungen zwischen Steinkorallen und stachligen Seeigeln verlorengegangen waren. Einige wenige wandten sich vor Verlegenheit ab oder konzentrierten sich ganz auf die Avocadosoße auf dem Tisch. Ein anregender Nachmittag war es für die Studenten, wenn Drumlin sie zu zweit oder dritt einlud, ihn hinaus zu seinem Lieblingsfelsen in der Nähe von Pacific Palisades zu fahren. Lässig an seinen Drachen geschnallt, sprang er dort von den Klippen auf den ruhigen Ozean hinaus, der einige hundert Meter tiefer lag. Aufgabe der Studenten war es, mit dem Wagen die Küstenstraße hinunterzufahren und ihn am Fuß der Klippen abzuholen. Von oben stürzte er auf sie herab und strahlte dabei vor Vergnügen. Er forderte die Studenten auf, sich ihm anzuschließen, aber nur wenige nahmen die Einladung an. Er war im Vorteil und genoß es in vollen Zügen. Es war ein richtiges Schauspiel. Es gab Professoren, die in den Studenten den wissenschaftlichen Nachwuchs und ihre intellektuellen Fackelträger zur nächsten Forschergeneration sahen. Drumlin, das fühlte Ellie, war da ganz anderer Ansicht. Für ihn waren die älteren Studenten Gegner in einem Duell mit Revolvern. Und man konnte nie wissen, welcher von ihnen ihn vielleicht schon im nächsten Moment zum Kampf um den Titel des „schnellsten Revolvers im Westen“ herausforderte. Die Studenten mußten an ihrem Platz gehalten werden. Ellie gegenüber war er noch nie zudringlich geworden, aber früher oder später würde er es sicher versuchen.