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Als die Untersuchungsbeamten auf den Plan traten, hielt sich Ellie zurück: „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel dazu sagen. Wir hatten gerade die Integrationshalle betreten, als es plötzlich eine Explosion gab und alles in die Luft flog. Tut mir leid, daß ich nicht weiterhelfen kann. Ich wünschte, ich könnte es.“ Ellie machte auch ihren Kollegen klar, daß sie nicht darüber sprechen wollte. Sie verschwand so lange in ihrer Wohnung, daß man sie schließlich sogar suchen ließ. Sie versuchte, sich jedes Detail des Unfalls zu vergegenwärtigen. Sie versuchte, das Gespräch zu rekonstruieren, das sie vor dem Betreten des Montagegeländes geführt hatten. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, worüber sie sich mit Drumlin auf der Fahrt nach Missoula unterhalten hatte, wie Drumlin bei ihrer ersten Begegnung auf sie gewirkt hatte, als sie mit ihrem Studium in Kalifornien angefangen hatte. Allmählich fand sie heraus, daß ein Teil in ihr Drumlin den Tod gewünscht hatte — sogar noch bevor sie Rivalen um den amerikanischen Sitz in der Maschine geworden waren. Sie hatte ihn gehaßt, weil er sie im Seminar vor den anderen Studenten fertiggemacht hatte, weil er Argus bekämpft hatte. Sie erinnerte sich an das, was er unmittelbar nach dem Film über Hitler zu ihr gesagt hatte. Sie hatte gewünscht, daß er tot wäre. Und jetzt war er tot. In gewisser Hinsicht hielt sie sich für schuldig. Aber sie wußte selbst nicht mehr, was sie von ihren Gefühlen halten sollte. Wäre Drumlin auch hier gewesen, wenn sie nicht gewesen wäre? Sicher, sagte Ellie sich, dann hätte jemand anderes die BOTSCHAFT entdeckt, und Drumlin hätte sich diesem anderen angeschlossen. Aber hatte nicht sie ihn in ihrer wissenschaftlichen Unbekümmertheit immer tiefer in das Maschinenprojekt hineingezogen? Schritt für Schritt ging sie alle Möglichkeiten durch. Gerade über die, die ihr besonders abstoßend erschienen, dachte sie besonders gründlich nach. Sie wollte ihren Gefühlen auf den Grund kommen. Sie dachte über die Männer nach, die sie aus dem einen oder anderen Grund bewundert hatte. Drumlin, Valerian, Der Heer, Hadden. Joss. Jesse. Staughton?. ihr Vater. „Frau Dr. Arroway?“

Dankbar ließ sich Ellie aus ihren Gedanken wachrütteln. Vor ihr stand eine korpulente blonde Frau mittleren Alters in einem blau gemusterten Kleid. Das Gesicht kam Ellie bekannt vor. Auf dem Namensschild an ihrem üppigen Busen stand: „H. Bork, Göteborg.“

„Frau Dr. Arroway, mein herzliches Beileid zu Ihrem. unserem Verlust. David hat mir von Ihnen erzählt.“

Natürlich! Die legendäre Helga Bork, Drumlins Begleiterin beim Sporttauchen, die sie von den zahlreichen langweiligen Diavorträgen aus ihrer Studentenzeit kannte. Wer, fragte sich Ellie jetzt zum ersten Mal, hatte die Bilder eigentlich gemacht? Ob sie wohl einen Photographen eingeladen hatten, sie auf ihrem Unterwasserrendezvous zu begleiten? „Er hat mir auch erzählt, wie nahe Sie sich standen.“ Was wollte ihr diese Frau weismachen? Wollte Drumlin ihr zu verstehen geben. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Entschuldigen Sie, Frau Dr. Bork, ich fühle mich gerade nicht besonders wohl.“ Mit gesenktem Kopf eilte sie fort.

Es gab so viele Menschen, die Ellie auf dem Begräbnis hatte sehen wollen: Waygay, Archangelski, Gotsridse, Baruda, Yu, Xi, Devi. Und Abonneba Eda, der mehr und mehr als der fünfte Teilnehmer im Gespräch war — wenn die Länder ein bißchen Verstand hatten, dachte sie, und wenn es je so etwas wie eine fertige Maschine geben würde. Aber sie fühlte sich angeschlagen und konnte jetzt keine langen Sitzungen ertragen. Sie traute sich selbst nicht mehr. Ging es ihr bei dem, was sie sagte, um das Gelingen des Projekts, oder ging es ihr letztlich immer nur um sich selbst? Aber die anderen waren mitfühlend und verständnisvoll. Schließlich hatte Ellie Drumlin am nächsten gestanden, als der Erbiumdübel ihn getroffen und zermalmt hatte.

16

Die Alten von Ozon

Der Gott, den die Naturwissenschaften anerkennen, muß ein Gott universaler Gesetze sein, ein Gott des Großhandels, nicht des Einzelhandels. Er kann sein Wirken nicht individuellen Bedürfnissen anpassen.

William James
Die Vielfalt der religiösen Erfahrung (1902)

Aus einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern Höhe gesehen, füllte die Erde den halben Himmel aus, und das blaue Band, das sich von Mindanao bis Bombay erstreckte und das das Auge mit einem Blick erfaßte, brach einem fast das Herz vor Schönheit. Heimat, fuhr es einem durch den Kopf. Heimat. Das war die Erde. Von dort kamen die Menschen her. Alle Freunde und Bekannten waren dort unter diesem unbarmherzigen und zugleich köstlichen Blau großgeworden.

Man raste Richtung Osten von Horizont zu Horizont, von Morgendämmerung zu Morgendämmerung, den Planeten in eineinhalb Stunden umkreisend. Nach einer gewissen Zeit begann man, seine Eigenarten und Schönheiten zu entdecken. Man konnte so viel mit bloßem Auge sehen. Gleich kam Florida wieder in den Blick. Hatte der Wirbelsturm, den man bei der letzten Umkreisung über die Karibik jagen sah, Fort Lauderdale erreicht? Gab es diesen Sommer im Hindukusch schneefreie Berge? Man bewunderte die aquamarinblauen Riffe in der Korallensee. Man betrachtete das Packeis der westlichen Antarktis und fragte sich, ob tatsächlich alle Küstenstädte auf dem Planeten überflutet würden, wenn es schmolz.

Am Tage konnte man kaum Spuren menschlicher Behausungen erkennen. Aber bei Nacht verwandelte die Erde sich in ein Lichtermeer, und vom Polarlicht abgesehen waren alle Lichter den Menschen zu verdanken. Jener Lichtstreifen im Osten Nordamerikas, der sich von Boston bis Washington hinzog, war praktisch, wenn auch nicht dem Namen nach, eine Megalopolis. Dort drüben in Libyen war eine Erdgasflamme zu erkennen. Die strahlenden Lichter der japanischen Krabbenfangflotte bewegten sich auf das ostchinesische Meer zu. Bei jeder neuen Umkreisung erzählte die Erde neue Geschichten. Man sah einen Vulkanausbruch auf Kamtschatka, einen Sandsturm in der Sahara, der sich Brasilien näherte, und für die Jahreszeit ungewöhnlich kaltes Wetter auf Neuseeland. Man fing an, die Erde als einen Organismus zu begreifen, als etwas Lebendiges. Man begann, sich ernstlich Sorgen um sie zu machen, weil man sie plötzlich sehr lieb gewann. Nationale Grenzen waren genauso unsichtbar wie die Längengrade oder die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks. Die Grenzen waren willkürlich. Aber der Planet war wirklich. Deshalb war der Raumflug subversiv. Die meisten Menschen, die das Glück hatten, sich einmal in der Erdumlaufbahn zu befinden, kamen nach kurzer Zeit auf ähnliche Gedanken. Die Nationen, die den Raumflug zuerst ermöglicht hatten, hatten vor allem nationalistische Beweggründe gehabt. Aber die Ironie des Schicksals wollte, daß gerade die, die ins All flogen, plötzlich eine Ahnung davon bekamen, daß die Erde ein Ganzes war, das keine nationalen Grenzen kannte.