Im Konferenzraum setzten sie sich auf niedrige Sessel — offensichtlich ein Zugeständnis an den westlichen Geschmack —, die um einen ebenfalls niedrigen Lacktisch standen. Dazu wurde Tee serviert. Ellie konnte von ihrem Platz aus ganz Tokio überblicken. Ihr fiel ein, daß sie in letzter Zeit oft aus Fenstern geschaut hatte. Der Name der Zeitung war Asahi Shimbun, die Morgensonne-Zeitung. Ellie fand es interessant, daß unter den politischen Berichterstattern eine Frau war, eine große Ausnahme, wenn man an die amerikanischen und sowjetischen Medien dachte. Die traditionellen männlichen Privilegien wurden offenbar ohne viel Aufsehen in einer Art Kleinkrieg nach und nach erobert. Erst gestern hatte der Präsident einer Firma namens Nanoelektronik Ellie sein Leid geklagt, daß kein „Mädchen“ in Tokio mehr wüßte, wie man den Obi um den Kimono schlingt. Wie im Fall der Fliege, die man auch nur noch mit einem Clip befestigte, hatte ein leicht zu bindendes Imitat den Markt erobert. Japanische Frauen hatten Wichtigeres zu tun, als täglich eine halbe Stunde mit dem Wickeln und Feststecken von Scherpen zu verbringen. Die Reporterin trug ein schlichtes, elegantes Kostüm mit wadenlangem Rock. Aus Gründen der Sicherheit durfte die Presse das Maschinengelände auf Hokkaido nicht betreten. Statt dessen wurden immer, wenn ein Mitglied der Besatzung oder ein Projektleiter auf die Hauptinsel Honshu kam, Fragestunden für die japanische und ausländische Presse veranstaltet. Die Fragen waren Ellie vertraut. Denn abgesehen von einigen lokal bedingten Eigenheiten stellten die Journalisten auf der ganzen Welt die gleichen Fragen. Ob sie sich freue, daß nach den amerikanischen und sowjetischen „Enttäuschungen“ doch noch eine Maschine in Japan gebaut wurde? Ob sie sich auf Hokkaido einsam fühle? Ob es ihr Sorgen bereite, daß die Maschinenteile, die man auf Hokkaido einbaute, mehr Tests unterzogen worden waren, als die BOTSCHAFT vorschrieb? Vor 1945 hatte der Stadtteil Tokios, in dem sie sich befanden, der kaiserlichen Flotte gehört. Und tatsächlich konnte Ellie in der unmittelbaren Nachbarschaft das Dach des Marineobservatoriums mit den zwei silbernen Kuppeln für die Teleskope sehen, die noch immer für Zeitmessungen und kalendarische Berechnungen eingesetzt wurden. Sie glänzten in der Mittagssonne.
Warum hatte die Maschine ausgerechnet die Form eines Dodekaeders? Und warum hießen die Kugelschalen Benzel? Natürlich würden sie verstehen, daß auch Ellie das nicht wußte, erklärten die Reporter. Aber was war ihre persönliche Meinung? Ellie erklärte ihnen, daß bei solchen Problemen eine festgelegte Meinung unangebracht sei, weil keine Beweise für irgend etwas vorlagen. Die Reporter blieben hartnäckig, aber Ellie ließ sich nicht festnageln. Wenn es wirklich gefährlich war, sollte man dann nicht ernstlich überlegen, Roboter anstelle von Menschen zu schicken, wie ein japanischer Experte für künstliche Intelligenz empfohlen hatte? Ob sie irgend etwas ganz Persönliches mit sich nehme? Familienbilder? Einen Mikrocomputer? Oder ein Schweizer Offiziersmesser?
Ellie beobachtete, wie zwei Gestalten durch eine Falltür auf dem Dach des Observatoriums auftauchten. Ihre Gesichter waren hinter Visieren verborgen. Sie trugen die blaugrauen, gepolsterten Schutzhemden aus der Zeit des mittelalterlichen Japan. Drohend schwangen sie hölzerne Stöcke, die länger waren als sie selbst, verbeugten sich voreinander, hielten einen Herzschlag lang inne und schlugen und parierten dann die nächste halbe Stunde. Ellie gab den Reportern jetzt nur noch ihre Standardantworten. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Schauspiel vor ihren Augen. Keiner sonst schien es zu bemerken. Die Stöcke mußten sehr schwer sein, weil der zeremonielle Kampf sehr langsam ablief und so aussah, als fände er auf dem Grund des Meeres statt.
Ob sie Dr. Lunatscharski und Dr. Sukhavati schon gekannt habe, bevor die BOTSCHAFT kam? Auch Dr. Eda? Und Mr. Xi? Was sie von ihnen halte, von ihren Fähigkeiten? Wie gut sie miteinander auskämen? Wieder wurde Ellie sich voller Verwunderung bewußt, daß sie zu dieser auserwählten Gruppe gehörte.
Welchen Eindruck hatte sie von der Qualität der japanischen Maschinenkomponenten? Ob sie etwas über die Begegnung der fünf mit Kaiser Akihito sagen könne? Waren die Gespräche mit den schintoistischen und buddhistischen Priestern Teil der Bemühung der Mitarbeiter des Projekts gewesen, sich eingehend über die bedeutenden Gestalten der Weltreligionen zu informieren, bevor die Maschine startete, oder war es nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber Japan als Gastland gewesen? Hielt Ellie es für möglich, daß das Projekt sich als ein Trojanisches Pferd oder eine Weltuntergangsmaschine entpuppte? Ellie versuchte, höflich, kurz und prägnant und auf keinen Fall provozierend zu antworten. Der Pressesprecher des Maschinenprojekts, der sie begleitet hatte, war sichtlich erfreut.
Plötzlich war das Interview vorüber. Sie alle wünschten ihr und ihren Kollegen viel Erfolg, sagte der Chefredakteur. Sie rechneten fest damit, daß sie, Ellie, ihnen nach ihrer Rückkehr ein Interview geben würde. Und sie hofften, sie würde auch danach noch oft als Gast nach Japan kommen. Ihre Gastgeber verbeugten sich lächelnd. Die gewappneten Krieger hatten sich durch die Falltür zurückgezogen. Ellie sah, wie die Beamten ihrer Eskorte sich vor der offenen Tür des Konferenzraumes wachsam nach allen Seiten umschauten. Auf dem Weg nach draußen fragte sie die Reporterin nach den geisterhaften Erscheinungen aus dem mittelalterlichen Japan.
„Ach ja, die“, erwiderte sie. „Das sind die Astronomen von der Küstenwache. Sie üben jeden Tag in der Mittagspause Kendo. Man kann die Uhr nach ihnen stellen.“
Xi war auf dem Langen Marsch geboren. In der Revolutionszeit hatte er schon als junger Bursche gegen die Kuomintang gekämpft. Er hatte als Nachrichtenoffizier in Korea gedient, bis er schließlich in eine einflußreiche Stellung in der chinesischen Rüstungsindustrie aufgestiegen war. Aber während der Kulturrevolution war er öffentlich gedemütigt und unter Hausarrest gestellt worden. Später hatte man ihn in aller Öffentlichkeit rehabilitiert.
Die Kulturrevolution hatte es Xi als Verbrechen angelastet, daß er einige der konfuzianischen Tugenden bewunderte, vor allem eine ganz bestimmte Textstelle aus dem Großen Lernen. Diese Textstelle kannte in früheren Jahrhunderten jeder Chinese, selbst der ungebildete, auswendig. Und auf eben diese Textstelle, hatte Sun Yat-sen gesagt, stütze sich seine eigene revolutionäre und nationale Bewegung:
Wollten unsere Vorfahren eine besonders edle Tugend im gesamten Königreich zur Geltung kommen lassen, dann brachten sie zuerst ihr eigenes Fürstentum in Ordnung. Wollten sie ihr Fürstentum in Ordnung bringen, dann klärten sie zuerst die Belange ihrer Familie.
Wollten sie die Belange ihrer Familie klären, dann veredelten sie zuerst ihre eigene Person. Wollten sie ihre Person veredeln, dann reinigten sie zuerst ihre Herzen. Wollten sie ihre Herzen reinigen, dann trachteten sie zuerst danach, in ihren Gedanken aufrichtig zu sein. Wollten sie in ihren Gedanken aufrichtig sein, dann erweiterten sie zuerst ihr Wissen bis zum äußersten. Die Erweiterung ihres Wissens bestand in der Erforschung der Dinge.