Es war ein Fehler gewesen, sie hierher zu schicken. Wenn sie einem schlangenhaarigen galaktischen Beamten gegenüberstand, würde sie sich blamieren — oder noch schlimmer, sie würde schuld daran sein, wenn die Note, mit der die menschliche Rasse in dem geheimnisvollen Test beurteilt wurde, von „bestanden“ zu „durchgefallen“ kippte. Besorgt und sehnsüchtig zugleich schaute sie die rätselhafte Tür an, deren unterer Rand jetzt unter Wasser lag. Die Flut stieg. Ein paar hundert Meter entfernt stand eine Gestalt am Strand. Zuerst dachte sie, es sei Waygay, der vielleicht früher aus dem Prüfungsraum gekommen war, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Aber wer auch immer es war, er trug nicht den Overall der Besatzung der Maschine. Er schien auch jünger und kräftiger zu sein. Sie griff nach dem Teleobjektiv und zögerte dann. Sie stand auf und beschattete die Augen mit der Hand. Nur einen Moment lang hatte es so ausgesehen. Das war natürlich unmöglich. So schamlos würden sie sie nicht ausnutzen.
Dann konnte sie einfach nicht anders. Mit fliegenden Haaren rannte sie über den harten Sand am Wassersaum auf ihn zu.
Er sah aus wie auf dem letzten Bild, das sie von ihm hatte, kräftig und glücklich. Er hatte einen Tag alte Bartstoppeln. Schluchzend warf sie sich in seine Arme. „Hallo, mein Mädchen“, sagte er und strich ihr mit der rechten Hand über den Kopf.
Es war seine Stimme. Sie erinnerte sich sofort. Und an seinen Geruch, seine Haltung, sein Lachen. Die Art, wie sein Bart an ihrer Wange kratzte. Das alles brachte ihre Selbstbeherrschung ins Wanken. Sie fühlte, wie eine massive Steinplatte aufgestemmt wurde und die ersten Lichtstrahlen in ein altes, fast vergessenes Grab fielen.
Sie schluckte und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen. Aber in endlos scheinenden Wellen strömte der Schmerz durch sie, und sie mußte wieder weinen. Er stand da und beruhigte sie mit dem gleichen Blick, den er ihr damals vom Fuß der Stufen her zugeworfen hatte, als sie die Reise die große Treppe hinab zum ersten Mal allein gewagt hatte. Nach nichts hatte sie sich so sehr gesehnt wie danach, ihn wiederzusehen, aber sie hatte das Gefühl unterdrückt, sie war darüber ungehalten gewesen, weil der Wunsch so offensichtlich unerfüllbar war. Sie weinte um all die Jahre, die zwischen ihr und ihm standen.
Als sie noch ein Mädchen und dann eine junge Frau gewesen war, hatte sie oft geträumt, er käme zu ihr, um ihr zu sagen, daß sein Tod ein Irrtum gewesen sei. In Wirklichkeit ginge es ihm gut. Dann nahm er sie stürmisch in die Arme. Aber stets bezahlte sie diese kurzen Ruhepausen mit einem bitteren Erwachen in einer Welt, in der es ihn nicht mehr gab. Trotzdem hatte sie diese Träume genährt und bereitwillig den übergroßen Preis dafür bezahlt, wenn sie am nächsten Morgen gezwungen war, den Verlust wieder neu zu entdecken und den Schmerz noch einmal zu durchleben. Diese Augenblicke mit einem Trugbild waren alles, was ihr von ihm geblieben war.
Und nun stand er hier — nicht als Traum oder Geist, sondern in Fleisch und Blut. Leibhaftig stand er vor ihr. Er hatte sie von den Sternen aus gerufen, und sie war gekommen. Sie drückte ihn an sich, so fest sie konnte. Sie wußte, daß es ein Trick war, eine Nachbildung, eine Simulation, aber die war fehlerlos. Einen Augenblick lang hielt sie ihn an den Schultern von sich weg. Er war vollkommen. Es war, als ob ihr Vater vor all den vielen Jahren gestorben und in den Himmel gekommen wäre. Und als ob sie es schließlich — auf diesem ungewöhnlichen Weg — geschafft hätte, wieder zu ihm zu kommen. Sie schluchzte und umarmte ihn von neuem.
Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Wenn es zum Beispiel Ken gewesen wäre, hätte sie zumindest mit dem Gedanken gespielt, daß ein weiteres Dodekaeder — möglicherweise die reparierte sowjetische Maschine — ihnen von der Erde zum Zentrum der Galaxis gefolgt wäre. Aber in diesem Fall kam die Möglichkeit nicht eine Sekunde in Betracht. Die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhten auf einem an einem See gelegenen Friedhof.
Sie rieb sich die Augen und weinte und lachte gleichzeitig. „Also, wem verdanke ich diese Erscheinung — den Fortschritten im Roboterbau oder der Hypnose?“
„Künstlich geschaffen oder einem Traum entstiegen? Das kannst du bei allem fragen.“
„Auch heute noch vergeht keine Woche, in der ich nicht denke, daß ich alles dafür geben würde — alles, was ich habe —, nur um wieder ein paar Minuten mit meinem Vater zu verbringen.“
„Nun, hier bin ich“, sagte er fröhlich. Mit erhobenen Händen drehte er sich um, damit sie sich überzeugen konnte, daß auch sein Rücken vorhanden war. Aber er war so jung, sicherlich jünger als sie. Er war erst sechsunddreißig gewesen, als er starb.
Vielleicht war das die Art der Außerirdischen, ihre Ängste zu beruhigen. Wenn das zutraf, dann waren sie wirklich. aufmerksam. Ellie legte den Arm um ihren Vater und ging mit ihm zu ihren wenigen Habseligkeiten zurück. Zumindest fühlte er sich so an, als ob er körperlich vorhanden wäre. Wenn unter seiner Haut Kabelstränge und integrierte Schaltkreise lagen, waren sie gut versteckt.
„Wie geht es?“ fragte sie. Die Frage war mißverständlich. „Ich meine, sind wir.“
„Ich verstehe schon. Vom Empfang der BOTSCHAFT bis zu eurer Ankunft hier hat es lange gedauert.“
„Beurteilst du damit unsere Geschwindigkeit oder unsere Genauigkeit?“
„Weder noch.“
„Willst du damit sagen, wir sind mit dem Test noch gar nicht fertig?“
Er antwortete nicht.
„Kannst du mir nicht alles erklären?“ Ihre Stimme klang unglücklich. „Manche von uns haben Jahre damit verbracht, die BOTSCHAFT zu entziffern und die Maschine zu bauen. Willst du mir nicht sagen, was das alles soll?“
„Du bist richtig streitlustig geworden“, sagte er, als ob er wirklich ihr Vater wäre und seine letzten Erinnerungen an sie mit ihrem jetzigen, immer noch unvollkommen entwickelten Selbst vergleichen würde.
Liebevoll zauste er ihr das Haar. Auch daran erinnerte sie sich noch von ihrer Kindheit her. Aber wie konnten die Außerirdischen in 30000 Lichtjahren Entfernung von der Erde die liebevollen Gesten ihres Vaters kennen, wie sie vor langer Zeit im fernen Wisconsin seine Eigenart gewesen waren? Plötzlich wußte sie es.
„Träume“, sagte sie. „Als wir heute nacht alle geträumt haben, wart ihr in unseren Köpfen, nicht wahr? Ihr habt alles aus uns herausgesaugt, was wir wissen.“
„Wir haben nur Kopien gemacht. Ich glaube, alles, was sonst in deinem Kopf ist, ist auch jetzt noch dort. Sieh mal nach. Sag mir, wenn etwas fehlt.“ Er grinste und fuhr fort: „Eure Fernsehsendungen haben uns so vieles nicht gezeigt. Wir konnten zwar eure technologische Entwicklungsstufe sehr gut abschätzen und auch sonst viel über euch erfahren. Aber in eurer Rasse steckt noch sehr viel mehr, Dinge, die wir keinesfalls auf so indirekte Weise herausfinden konnten. Wahrscheinlich wirst du das als Einbruch in deine Privatsphäre empfinden.“
„Du machst Witze.“
„. aber wir haben nur wenig Zeit.“
„Soll das heißen, daß die Prüfung vorbei ist? Haben wir all eure Fragen beantwortet, während wir nachts schliefen? Also? Haben wir bestanden oder sind wir durchgefallen?“