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William Shakespeare
König Lear, IV, 1

Wer alles kann, muß alles fürchten.

Pierre Corneille
Cinna IV, 2 (1640)

Sie waren überglücklich, zurück zu sein. Sie redeten durcheinander, und es war ihnen schwindlig vor Aufregung. Sie stiegen über die Sessel, umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Alle waren den Tränen nahe. Sie hatten es geschafft — aber nicht nur das, sie waren zurückgekehrt, hatten alle Tunnel sicher überwunden. Plötzlich erwachte das Radio mit heftigem Zischen und Rauschen zum Leben. Laut dröhnten die Stimmen des technischen Überwachungsdienstes aus den Lautsprechern. Alle drei Benzel verlangsamten ihre Drehung. Die elektrische Ladung baute sich wieder ab. Aus den von draußen übertragenen Kommentaren wurde deutlich, daß die Leute vom Projekt keine Ahnung hatten, was passiert war. Ellie fragte sich, wieviel Zeit wohl vergangen war. Sie schaute auf die Armbanduhr. Es war ungefähr ein Tag vergangen, das brachte sie mitten ins Jahr 2000. Durchaus angemessen. Wartet nur, bis ihr hört, was wir zu erzählen haben, dachte sie. Zu ihrer eigenen Beruhigung klopfte sie auf das Fach, in dem sie Dutzende von Mikro-Videokassetten aufbewahrte. Wie sich die Welt verändern würde, wenn diese Filme gezeigt wurden!

Der Raum zwischen den Benzein stand wieder unter Druck. Die Türen der Luftschleuse wurden geöffnet. Jetzt kamen über Funk Fragen nach ihrem Wohlergehen. „Uns geht es gut“, rief sie in ihr Mikrophon. „Laßt uns raus. Ihr werdet nicht glauben, was wir erlebt haben.“ Alle fünf marschierten sie strahlend aus der Luftschleuse und begrüßten überschwenglich ihre Kameraden, die geholfen hatten, die Maschine zu bauen und zu bedienen. Die japanischen Techniker empfingen sie. Die Funktionäre des Projekts drängelten sich durch die Menge. Ruhig sagte Devi zu Ellie: „So weit ich sehen kann, tragen alle genau die gleichen Kleider wie gestern. Sieh nur die scheußliche gelbe Krawatte, die Peter Valerian umhat.“

„Ach, dieses alte Ding trägt er immer“, erwiderte Ellie. „Seine Frau hat sie gekauft. Es war 15.20 Uhr. Die Aktivierung hatte gegen drei Uhr am Nachmittag zuvor begonnen. Also waren sie knapp über vierundzwanzig.“

„Welchen Tag haben wir?“ fragte sie. Man sah sie verständnislos an. Etwas war nicht in Ordnung. „Peter, um Gottes willen, welchen Tag haben wir?“

„Was soll das heißen?“ antwortete Valerian. „Es ist heute. Freitag, der 31. Dezember 1999. Es ist Silvester. War es das, was du wissen wolltest? Ellie, geht es dir gut?“ Waygay sagte zu Archangelski, er wolle alles von Anfang an erzählen, aber zuerst müßten seine Zigaretten hergeschafft werden. Um sie herum kam es zu einem Auflauf von Funktionären des Projekts und Repräsentanten des Weltkonsortiums. Ellie sah, wie sich Der Heer den Weg zu ihr durch die Menge bahnte.

„Was habt ihr von allem mitbekommen?“ rief sie, als er in Hörweite war.

„Überhaupt nichts. Das Vakuumsystem hat gearbeitet, die Benzel begannen, sich zu drehen, sie bauten elektrische Ladung auf, erreichten die vorgeschriebene Geschwindigkeit, und dann lief alles rückwärts ab.“

„Was soll das heißen, ‚alles lief rückwärts ab’?“

„Die Benzel wurden langsamer, und die elektrische Ladung baute sich wieder ab. Das System bekam wieder Druck, die Benzel kamen zum Stillstand, und ihr kamt alle heraus. Das Ganze hat vielleicht zwanzig Minuten gedauert, und wir konnten nicht mit euch reden, während sich die Benzel drehten. Habt ihr überhaupt etwas erlebt?“ Sie lachte. „Junge“, sagte sie, „habe ich eine tolle Geschichte für dich.“

Es wurde eine Party für die Mitarbeiter des Projekts gegeben, zur Feier der Aktivierung der Maschine und der Wende zum nächsten Jahrtausend. Ellie und ihre Reisegefährten nahmen nicht daran teil. Auf allen Fernsehkanälen sah man Feiern, Paraden, Ausstellungen, Rückblicke, Vorhersagen und optimistische Reden der Regierungschefs. Ellie hörte nur zufällig ein paar Sätze des buddhistischen Mönchs Utsumi, die so seligmachend waren wie schon immer. Aber sie hatte keine Zeit für so etwas. Das Direktorium des Projekts hatte aus den bisher erzählten Bruchstücken ihrer Abenteuer rasch geschlossen, daß die fünf über einen Zeitraum zu berichten hatten, der ganz und gar unmöglich erschien. Deshalb wurden sie mitten aus der feiernden Menge der Regierungsfunktionäre und Mitglieder des Konsortiums zu einer vorläufigen Befragung weggeholt. Sprecher der Projektleitung erklärten weiter, daß man es für ratsam hielt, jeden der fünf einzeln zu befragen.

Ellie wurde von Der Heer und Valerian in einem kleinen Konferenzraum verhört. Es waren noch weitere Funktionäre anwesend, darunter Waygays früherer Schüler Anatoli Goldmann. Sie schloß daraus, daß Bobby Bui, der Russisch sprach, bei Waygays Befragung für die Amerikaner dabei war.

Man hörte ihr höflich zu, und hin und wieder ermutigte Peter sie. Aber es fiel ihnen schwer, die Abfolge der Ereignisse zu verstehen. Vieles von dem, was sie erzählte, beunruhigte sie. Ihre Begeisterung steckte die anderen nicht an. Keiner wollte glauben, daß das Dodekaeder zwanzig Minuten lang verschwunden gewesen war, von einem ganzen Tag ganz zu schweigen. Schließlich hatte eine ganzes Arsenal von Instrumenten außerhalb der Benzel das Ereignis gefilmt und aufgezeichnet, und dabei war nichts Außergewöhnliches bemerkt worden. Es war nichts anderes passiert, erklärte Valerian, als daß die Benzel ihre vorgesehene Geschwindigkeit erreicht hatten, sich in mehreren Instrumenten unbekannter Bestimmung die entsprechenden Zeiger bewegt hatten, die Benzel langsamer geworden und zum Stillstand gekommen waren, und die fünf in großer Aufregung wieder herausgekommen waren. Valerian fügte nicht hinzu „und Unsinn geredet hatten“, aber sie konnte seine Besorgnis spüren. Man behandelte sie mit Achtung, aber sie wußte, was die anderen dachten: Die einzige Funktion der Maschine bestand darin, in zwanzig Minuten eine Fata Morgana zu erzeugen oder — zumindest als Möglichkeit — die fünf Besatzungsmitglieder verrückt zu machen.

Sie führte ihre Mikro-Videokassetten vor, die alle sorgfältig beschriftet waren: Etwa „Ringsystem der Wega“, oder „Radiostation (?) der Wega“, „Fünffachsystem“, „Sternenpanorama im Zentrum der Galaxis“. Auf einer der Kassetten stand nur: „Strand“. Sie legte eine nach der anderen in den Projektor ein. Es war nichts zu sehen. Die Kassetten waren vollkommen leer. Ellie konnte nicht verstehen, was schiefgegangen war. Sie hatte sorgfältig gelernt, das Mikrokamerasystem zu bedienen, und sie hatte es in Tests vor der Aktivierung der Maschine erfolgreich benützt. Sie hatte sogar bei einigen Filmmetern Stichproben gemacht, nachdem sie das System der Wega verlassen hatten. Sie war am Boden zerstört, als sie später erfuhr, daß die Instrumente, die die anderen bei sich hatten, ebenfalls auf unerklärliche Weise versagt hatten. Peter Valerian hätte ihr gerne geglaubt, Der Heer ebenfalls. Aber bei allem guten Willen fiel es ihnen schwer. Die Geschichte, mit der die fünf zurückkamen, war, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig ungewöhnlich und von keinerlei greifbaren Beweisen untermauert. Es war nicht einmal genügend Zeit für solche Erlebnisse gewesen. Sie waren ja nur zwanzig Minuten in der Maschine gewesen. Einen solchen Empfang hatte Ellie nicht erwartet. Aber sie war zuversichtlich, daß sich alles klären würde. Im Augenblick war sie damit zufrieden, sich das Erlebnis noch einmal vor Augen zu führen und sich ausführliche Aufzeichnungen zu machen. Sie wollte sicher sein, daß sie nichts vergaß.

Obwohl sich eine Front extremer Kaltluft von Kamtschatka her näherte, war es immer noch ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, als am Abend des Neujahretages eine Reihe außerplanmäßiger Flugzeuge auf dem internationalen Flughafen von Sapporo landete. Der neue amerikanische Verteidigungsminister Michael Kitz kam mit einem in aller Eile zusammengestellten Expertenteam in einer Sondermaschine der Vereinigten Staaten. Die Reise des Ministers wurde von Washington erst kurz vor dessen Eintreffen in Hokkaido bestätigt. In der knappen Pressemitteilung hieß es, der Besuch sei eine Routineangelegenheit, es gebe keine Krise und es bestünde keinerlei Gefahr: „Die Berichte aus der Integrationshalle der Maschine im Nordosten Sapporos bewegen sich vollkommen im Rahmen des Erwarteten.“ Eine Tu-120 war über Nacht von Moskau gekommen und brachte neben anderen Stefan Barada und Timofei Gotsridse. Natürlich war man auf keiner Seite davon begeistert, den Neujahrstag von den Familien getrennt verbringen zu müssen. Aber das Wetter in Hokkaido war eine angenehme Überraschung. Es war so warm, daß die Schneeskulpturen in Sapporo schmolzen. Das Dodekaeder aus Eis war zu einem unförmigen kleinen Gletscher geworden, von den abgerundeten Oberflächen, die einst die Kanten der fünfeckigen Flächen gebildet hatten, tropfte das Wasser. Zwei Tage später machte sich der Winter mit einem heftigen Sturm bemerkbar, und der gesamte Verkehr zur Integrationshalle kam zum Erliegen. Nicht einmal Fahrzeuge mit Vierradantrieb kamen durch. Einige Radio- und alle Fernsehverbindungen waren unterbrochen, offenbar war ein Mikrowellenübertragungsturm umgeweht worden. Während des größten Teils der Verhöre bestand Verbindung zur Außenwelt nur über Telephon. Und vielleicht über das Dodekaeder, dachte Ellie. Sie war versucht, sich an Bord zu schleichen und die Benzel in Drehung zu versetzen. Sie spann diese Phantasie gern aus. Aber tatsächlich konnte man überhaupt nicht wissen, ob die Maschine je wieder funktionieren würde, jedenfalls von dieser Seite des Tunnels aus. Ihr Vater hatte nein gesagt. Sie schwelgte in Erinnerungen an die Küste. Und an ihn. Was auch geschehen mochte, eine Wunde tief in ihr war geheilt. Sie konnte spüren, daß sich eine Narbe gebildet hatte. Es war die teuerste Psychotherapie der Welt gewesen. Und das will viel heißen, dachte sie.