Und wieder ertönte das Jagdhorn, diesmal noch näher, und er sagte: »Verdammt!«
Der Tachometer zeigte in altmodischen Runenziffern die Zahl fünfundsiebzig an. Ich wagte auf diesem Weg nicht schneller zu fahren.
Wieder ertönte das Horn, dreimal lang aufjaulend, ganz in der Nähe. Dann hörte ich Hundegebell links von uns.
»Wir sind der wirklichen Erde schon sehr nahe, wenn auch noch weit von Amber«, sagte mein Bruder. »Es wäre sinnlos, durch die benachbarten Schatten zu fliehen, denn wenn er es wirklich auf uns abgesehen hat, würde er uns verfolgen. Oder zumindest sein Schatten.«
»Was sollen wir tun?«
»Wir können nur aufdrehen und hoffen, daß er nicht hinter uns her ist.«
Und wieder gellte das Hörn auf, diesmal fast neben uns.
»Verdammt, worauf reitet er denn – auf einer Lokomotive?« fragte ich.
»Ich glaube, er reitet seinen mächtigen Morgenstern, das schnellste Pferd, das er je geschaffen hat.«
Ich ließ mir das vorletzte Wort eine Weile durch den Kopf gehen. Ja, es stimmt, sagte mir eine innere Stimme. Julian hatte Morgenstern aus den Schatten geschaffen, hatte in diesem Wesen die Wucht einer Dampframme mit der Geschwindigkeit eines Hurrikans verbunden.
Plötzlich fiel mir ein, daß ich guten Grund hatte, dieses Tier zu fürchten – und da sah ich es auch schon.
Morgenstern war sechs Hände größer als jedes andere Pferd, das ich je gesehen hatte, seine Augen wirkten seltsam tot, sein Fell war grau, und seine Hufe erinnerten an schimmernden Stahl. Er flog schnell wie der Wind dahin und hielt mit dem Wagen Schritt.
Julian duckte sich im Sattel – der Julian von der Spielkarte, mit langem schwarzen Haar und hellblauen Augen, und er trug seine schuppige weiße Rüstung.
Julian lächelte uns zu und winkte. Morgenstern warf den Kopf hoch, und seine herrliche Mähne wogte im Wind wie eine Flagge. Seine Beine waren ein einziger verwischter Schatten.
Mir fiel ein, daß Julian vor längerer Zeit einen Mann in abgelegte Kleidung von mir gesteckt und ihn veranlaßt hatte, das Tier zu quälen. Dies hatte dazu geführt, daß mich Morgenstern bei der nächsten Jagd niederzutrampeln versuchte, als ich abstieg, um einen Rehbock aufzubrechen.
Ich hatte das Fenster wieder zugemacht und nahm nicht an, daß Morgenstern am Geruch feststellen konnte, wer im Wagen saß. Doch Julian hatte mich entdeckt, und ich glaubte zu wissen, was das bedeutete. Er war von seinen Sturmhunden umgeben, robusten Tieren mit stahlharten Zähnen. Auch sie kamen aus den Schatten, denn kein normaler Hund vermochte so schnell zu rennen. Allerdings fühlte ich, daß das Wort »normal« in dieser Welt im Grunde auf nichts zutraf.
Julian signalisierte uns anzuhalten, und ich sah zu Random hinüber, der mir zunickte. »Wenn wir nicht gehorchen, reitet er uns nieder«, sagte er. Ich trat also auf die Bremse, fuhr langsamer, hielt an.
Morgenstern stieg auf die Hinterhand empor, ließ die Vorderhufe durch die Luft wirbeln, sprang mit allen vier Hufen auf und trabte näher. Die Hunde wimmelten hechelnd herum. Das Fell des Pferdes wies einen Schimmer auf, der vom Schweiß herrühren mußte.
Ich kurbelte das Fenster herunter.
»Was für eine Überraschung!« sagte Julian langsam, fast stockend, wie es seine Art war. Ein großer schwarzund grüngefiederter Falke kreiste herab und setzte sich auf seine linke Schulter.
»Kann man wohl sagen«, erwiderte ich. »Wie ist es dir ergangen?«
»Ach, großartig«, beschied er mich, »wie immer. Und wie geht es dir und Bruder Random?«
»Ich bin ganz gut in Form«, antwortete ich.
Random nickte.
»Ich hätte angenommen, daß du dich in solchen Zeiten mit anderen Spielen beschäftigst.«
Julian neigte den Kopf und musterte ihn schräg durch die Windschutzscheibe.
»Es macht mir Spaß, Tiere abzuschlachten«, sagte er, »und ich denke ständig an meine Verwandten.«
Ein Kälteschauer rieselte mir über den Rücken.
»Der Lärm eures Motorwagens hat mich von der Jagd abgelenkt«, sagte er. »Dabei wußte ich zunächst gar nicht, daß ich zwei Burschen wie euch darin finden würde. Ich möchte fast annehmen, daß ihr hier nicht zu eurem Vergnügen herumfahrt, sondern ein Ziel habt – Amber zum Beispiel. Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte ich. »Darf ich fragen, warum du hier bist – und nicht dort?«
»Eric hatmich hierhergeschickt, damit ich die Straße bewache«, erwiderte er. Unwillkürlich legte ich die Hand auf eine der Pistolen in meinem Gürtel. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß sein Panzer sogar einer Kugel standgehalten hätte. Ich überlegte, ob ich auf Morgenstern schießen sollte.
»Nun, meine Brüder«, sagte er lächelnd. »Ich heiße euch im Schoße der Familie willkommen und wünsche euch eine gute Reise. Bestimmt sehe ich euch bald in Amber. Guten Tag.« Mit diesen Worten zog er sein Tier herum und ritt auf den Wald zu.
»Komm, wir wollen schleunigst hier verschwinden«, flüsterte Random. »Wahrscheinlich plant er einen Hinterhalt oder will uns jagen.« Er zog eine Waffe aus dem Gürtel und legte sie im Schoß bereit.
Ich fuhr in vernünftigem Tempo weiter.
Als ich nach fünf Minuten aufzuatmen begann, vernahm ich wieder das Horn. Obwohl ich wußte, daß er uns einholen würde, trat ich das Gaspedal nieder, denn ich wollte möglichst viel Zeit und Abstand gewinnen. Wir rutschten durch die Kurven, dröhnten Hänge hinauf und rasten durch Senken. Einmal hätte ich fast ein Reh gerammt, aber wir konnten dem Tier ausweichen, ohne die Fahrt zu verlangsamen oder gegen einen Baum zu krachen.
Die Hornstöße klangen schon wieder näher, und Random murmelte üble Verwünschungen.
Ich hatte das Gefühl, daß der Wald noch lange nicht zu Ende war – was mich nicht gerade aufmunterte.
Wir erreichten eine ziemlich lange gerade Strecke, auf der ich fast eine Minute lang höchstes Tempo fahren konnte. In dieser Zeit wurde Julians Jagdhorn wieder leiser. Aber dann erreichten wir ein Waldstück, in dem der Weg zahlreiche Kurven beschrieb, und hier mußte ich wieder langsamer fahren; hier begann er aufzuholen.
Etwa sechs Minuten später tauchte er im Rückspiegel auf, eine dahingaloppierende Masse auf dem Weg, von seiner hechelnden, bellenden, sabbernden Meute umgeben.
Random kurbelte sein Fenster runter, lehnte sich hinaus und begann zu feuern.
»Die verdammte Rüstung!« sagte er. »Ich bin sicher, daß ich ihn zweimal getroffen habe, aber es ist ihm nichts passiert.«
»Es gefällt mir zwar nicht, das Tier umzubringen«, sagte ich, »aber ziel auf das Pferd.«
»Habe ich schon mehrmals gedacht«, erwiderte er, warf seine leere Waffe wütend auf den Wagenboden und zog die andere. »Entweder bin ich ein schlechterer Schütze, als ich dachte, oder das Gerücht stimmt, wonach man ein Geschoß aus Silber braucht, wenn man Morgenstern töten will.«
Mit den restlichen Patronen erschoß er sechs Hunde, doch die Meute bestand noch mindestens aus zwei Dutzend Tieren.
Ich reichte ihm eine meiner Pistolen, und er erledigte fünf weitere Hunde.
»Die letzte Patrone hebe ich mir auf«, sagte er, »für Julians Kopf, wenn er nahe genug herankommt!«
Die Verfolger waren in diesem Augenblick noch etwa fünfzig Fuß hinter uns und holten immer mehr auf. Ich trat heftig auf die Bremse.
Einige Hunde vermochten nicht mehr rechtzeitig anzuhalten, aber Julian war plötzlich verschwunden, und ein dunkler Schatten segelte über uns dahin.
Morgenstern war über den Wagen gesprungen! Er wirbelte auf der Stelle herum, und als Pferd und Reiter sich in unsere Richtung wandten, gab ich wieder Gas. Der Wagen schleuderte los.
Mit einem großartigen Sprung brachte sich Morgenstern aus der Gefahrenzone. Im Rückspiegel sah ich, wie zwei Hunde ein Schutzblech fallenließen, das sie abgerissen hatten, und die Verfolgung wieder aufnahmen. Einige Tiere lagen auf der Straße, und nur noch fünfzehn oder sechzehn beteiligten sich an der Jagd.
»Gut gemacht«, sagte Random. »Aber du hattest Glück, daß sie nicht in die Reifen gebissen haben. Ist wahrscheinlich ihr erstes Auto.«