Ich hatte zwar kein Kartenspiel, aber die Kraft des Musters mochte mir den gleichen Dienst tun . . .
Sie warteten auf mich, mein Bruder und meine Schwester und Moire mit ihren Schenkeln wie Marmorsäulen.
Deirdre konnte nun wieder auf sich selbst aufpassen – schließlich hatten wir ihr das Leben gerettet. Ich fühlte mich nicht verpflichtet, sie Tag um Tag zu beschützen. Random saß ohnehin ein Jahr lang in Rebma fest, es sei denn, er hatte den Mut, vorzuspringen, das Muster bis zu seinem stillen Machtkern abzuschreiten und zu fliehen. Und was Moire anging, die Bekanntschaft mit ihr war angenehm gewesen; vielleicht würde ich sie eines Tages wiedersehen – und zwar gern. Ich schloß die Augen und senkte den Kopf.
Doch kurz vorher sah ich noch einen vorbeihuschenden Schatten.
Random? Versuchte er es tatsächlich? Wie auch immer, er wußte bestimmt nicht, wohin ich wollte. Niemand konnte das wissen.
Ich öffnete die Augen und stand in der Mitte desselben Musters, umgekehrt.
Frierend und erschöpft sah ich mich um – ich war in Amber, im wirklichen Saal, von dem derjenige, aus dem ich kam, nur ein Abbild war. Vom Muster konnte ich innerhalb Ambers zu jedem gewünschten Punkt springen.
Die Rückkehr würde allerdings ein Problem aufwerfen.
Ich stand tropfnaß da und überlegte.
Wenn Eric eine der königlichen Zimmerfluchten bezogen hatte, mochte ich ihn dort finden. Vielleicht auch im Thronsaal. Aber dann mußte ich mit eigener Kraft zum Ort der Macht zurückfinden, mußte ich wieder durch das Muster schreiten, um den Fluchtpunkt zu erreichen.
Ich versetzte mich in ein mir bekanntes Versteck im Palast. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum, der nur durch, einige Beobachtungsschlitze weiter oben erleuchtet wurde. Ich verriegelte den einzigen Zugang von innen, staubte mir eine Holzbank ab, breitete meinen Mantel darauf aus und legte mich zu einem Schläfchen nieder. Wenn von oben jemand herabstieg, würde ich ihn rechtzeitig hören.
Und ich schlief ein.
Nach einer Weile erwachte ich, stand auf, staubte meinen Mantel ab und legte ihn wieder um. Dann begann ich die Serie der Pflöcke zu erklimmen, die leiterartig in den Palast hinaufführte.
Anhand der Markierungen an den Wänden erkannte ich, wo die dritte Etage lag.
Ich schwang mich auf einen kleinen Vorsprung hinüber und suchte nach dem Guckloch. Ich fand es und starrte hindurch. Kein Mensch zu sehen. Die Bibliothek war leer. Ich öffnete die Geheimtür und trat ein.
Wie immer beeindruckte mich die Vielzahl der Bücher. Ich betrachtete alles, einschließlich der Glasvitrinen, und ging schließlich auf eine Stelle zu, wo ein Kristallkasten all das enthielt, was zu einem Familienbankett führt. Er enthielt vier Sätze der Familienkarten, und ich suchte nach einer Möglichkeit, mir ein Spiel zu besorgen, ohne einen Alarm auszulösen, der verhindern konnte, daß ich es benutzte.
Nach etwa zehn Minuten gelang es mir, den richtigen Kasten mit einem Trick zu öffnen. Dann suchte ich mir mit den Karten einen bequemen Sitz, um mich näher mit meiner Beute zu befassen.
Die Karten sahen genauso aus wie Floras Spiel; sie hielten uns alle unter Glas fest und fühlten sich kalt an zwischen den Fingern. Inzwischen war mir auch der Grund wieder bekannt.
Ich mischte die Karten und breitete sie in der richtigen Reihenfolge vor mir aus. Dann deutete ich ihre Position und sah, daß auf die ganze Familie schlimme Dinge zukamen; schließlich raffte ich die Karten wieder zusammen.
Bis auf eine.
Bis auf die Karte, die meinen Bruder Bleys zeigte.
Ich schob die anderen wieder in ihre Schachtel und steckte diese in den Gürtel. Dann befaßte ich mich in Gedanken mit Bleys.
Etwa zu dieser Zeit kratzte es im Schloß der großen Bibliothekstür. Was tun? Ich lockerte mein Schwert in der Scheide und wartete. Allerdings duckte ich mich dazu hinter den Tisch.
Um die Ecke blickend, sah ich, daß es sich um einen Mann namens Dik handelte, der offensichtlich saubermachen wollte; er begann die Aschenbecher und Papierkörbe zu leeren und die Regale abzustauben.
Da es unpassend gewesen wäre, entdeckt zu werden, richtete ich mich auf. »Hallo, Dik«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an mich?«
Er zuckte heftig zusammen und wurde totenblaß.
»Natürlich, Lord«, sagte er. »Wie könnte ich Euch je vergessen?«
»Na ja, nach so langer Zeit wäre das immerhin möglich.«
»Niemals, Lord Corwin«, erwiderte er.
»Ich nehme an, ich bin ohne offizielle Genehmigung hier und im Begriff, verbotene Nachforschungen anzustellen«, sagte ich, »aber wenn Eric einen Wutanfall bekommt, sobald du ihm von mir berichtest, erkläre ihm bitte auch, daß ich lediglich meine Rechte ausgeschöpft habe und daß er mich von Angesicht wiedersehen wird – bald.«
»Das werde ich tun, M’lord«, sagte er und verbeugte sich.
»Komm, setz dich einen Augenblick zu mir, guter Dik, dann erzähle ich dir mehr.«
Er gehorchte, und ich machte mein Versprechen wahr.
»Es gab eine Zeit«, sagte ich in sein uraltes Gesicht, »da man mich für immer verloren wähnte und aufgegeben hatte. Aber da ich noch lebe und noch bei vollen Kräften bin, muß ich Erics Anspruch auf den Thron von Amber wohl leider anfechten. Allerdings ist das keine leichthin zu klärende Sache, da er nicht der Erstgeborene ist und ich außerdem nicht der Meinung bin, daß er breite Unterstützung fände, wenn ein anderer Thronanwärter auf der Bildfläche erschiene. Aus diesen Gründen – zu denen noch viele andere kommen, von denen die meisten persönlicher Natur sind – werde ich ihn bekämpfen. Ich habe noch nicht entschieden, auf welche Grundlage ich meine Opposition stellen will – jedenfalls hat er eine verdient, bei Gott! Sag ihm das! Wenn er mich sprechen möchte, sag ihm, ich wohne in den Schatten, doch in anderen als zuvor. Vielleicht weiß er, was ich damit meine. Ich bin nicht leicht zu vernichten, denn ich werde mich mindestens ebensogut schützen, wie er sich hier einkapselt. Ich werde ihm von jetzt bis in alle Ewigkeit die Hölle heiß machen und werde erst aufhören, bis einer von uns tot ist. Was sagst du dazu, alter Gefolgsmann?«
Und er ergriff meine Hand und küßte sie.
»Heil sei Euch, Corwin, Lord von Amber«, sagte er, und eine Träne funkelte in seinem Auge.
Im nächsten Augenblick knirschte die Tür hinter ihm und schwang auf. Eric trat ein.
»Hallo«, sagte ich im Aufstehen und ließ meine Stimme denkbar herablassend klingen. »Ich hatte nicht erwartet, in dieser Partie so früh auf dich zu treffen. Wie stehen die Dinge in Amber?« Seine Augen waren geweitet vor Erstaunen.
»Nun, wenn es um die Dinge geht, Corwin, steht es gut. In anderer Beziehung allerdings nicht so gut.«
»Das ist bedauerlich«, sagte ich, »und wie stellen wir die Dinge richtig?«
»Ich wüßte eine Methode«, erwiderte er und sah zu Dik hinüber, der sich schleunigst empfahl und die Tür hinter sich zumachte. Ich hörte sie ins Schloß klicken.
Eric lockerte sein Schwert in der Scheide.
»Du willst auf den Thron«, sagte er.
»Wollen wir das nicht alle?« gab ich zurück.
»Schon möglich«, meinte er seufzend. »Es stimmt völlig – das Gerede vom unruhigen Schlaf, wenn man Herrscher ist. Ich habe keine Ahnung, warum wir dermaßen nach diesem lächerlichen Posten streben. Aber du darfst nicht vergessen, daß ich dich schon zweimal besiegt habe, wobei ich dir beim letztenmal in einer Schattenwelt großzügig das Leben geschenkt habe.«
»So großzügig war das gar nicht«, widersprach ich. »Du weißt selbst, wo du mich zurückgelassen hast – ich sollte an der Pest sterben. Wenn ich mich recht erinnere, war der Kampf beim erstenmal ziemlich ausgeglichen.«
»Dann kämpfen wir es jetzt aus, Corwin«, sagte er. »Ich bin älter und besser als du. Wenn du mit Waffen gegen mich antreten willst, bin ich gerüstet. Tötest du mich, gehört der Thron wahrscheinlich dir. Versuch’s ruhig! Doch ich glaube nicht, daß du es schaffst. Und ich möchte, daß du deinen Anspruch hier und jetzt erhebst. Also los. Wollen mal sehen, was du auf der Schatten-Erde gelernt hast.«