Ist man ein Prinz oder eine Prinzessin vom Blute, dann kann man zu Fuß gehen, dann kann man die Schatten durchqueren und die Umgebung im Vorbeigehen zwingen, sich zu verändern, bis sie schließlich genau die gewünschte Form hat, und dann aufhören. Diese Schattenwelt wird dadurch zur eigenen, und man kann damit machen, was man will – bis auf die Einwirkungen anderer Familienmitglieder. An einem solchen Ort hatte ich mich jahrhundertelang aufgehalten.
Die zweite Möglichkeit sind die Karten, die von Dworkin dem Meister nach unserem Ebenbild gezeichnet worden waren, um die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Königsfamilie zu erleichtern. Er war der urzeitliche Künstler, dem Raum und Perspektive nichts bedeuteten. Er hatte die Familientrümpfe geschaffen, die es dem Suchenden erlaubten, seine Verwandten anzusprechen, wo immer sie sich befinden mochten.
Ich hatte das Gefühl, daß die Karten nicht in voller Übereinstimmung mit den Absichten des Schöpfers eingesetzt worden waren.
Die dritte Möglichkeit war das Muster, das ebenfalls von Dworkin gezeichnet worden war und das nur von einem Mitglied unserer Familie abgeschritten werden konnte. Es führte den Gehenden in das System der Karten ein und gab ihm zum Schluß die Macht, die Schatten zu überspringen.
Die Karten und das Muster sorgten für einen sofortigen Sprung von der Substanz durch die Schatten. Die andere Möglichkeit, der Weg zu Fuß, war mühsamer.
Ich wußte, was Random geleistet hatte, als er mich in die wahre Welt führte. Im Verlauf unserer Fahrt hatte er aus dem Gedächtnis immer wieder Dinge addiert, an die er sich aus Amber erinnerte, und andere Details subtrahiert, die nicht dazugehörten. Als schließlich alles stimmte, wußte er, daß wir am Ziel waren. Im Grunde war das kein Trick, denn mit dem erforderlichen Wissen vermochte jeder von uns sein eigenes Amber zu erreichen. Auch jetzt noch hätten Bleys und ich ein Schatten-Amber finden können, in dem jeder von uns auf dem Thron saß; wir hätten bis in alle Ewigkeit dort herrschen können. Aber das wäre eben nicht das Wahre gewesen, denn keiner von uns hätte sich im wirklichen Amber befunden, in der Stadt unserer Geburt, in der Stadt, die Vorbild ist für alle anderen.
Für unseren Angriff auf Amber wählten wir also den anstrengendsten Weg, den Marsch durch die Schatten. Wer immer davon wußte und die Fähigkeit besaß, konnte uns Hindernisse in den Weg stellen. Das hatte Eric getan, und viele starben im Kampf dagegen. Wie würde das Ergebnis aussehen? Das wußte niemand.
Aber wenn Eric zum König gekrönt wurde, mußte sich das widerspiegeln und überall seine Schatten werfen.
Alle überlebenden Brüder, wir Prinzen von Amber, dessen bin ich sicher, hielten es jeder auf seine eigene simple Art für weitaus besser, diesen Status persönlich zu erlangen und die Schatten anschließend nach Belieben fallen zu lassen.
Wir passierten Gespensterflotten, die Schiffe von Gérard – die Fliegenden Holländer dieser Welt und jener Welt –, und wir wußten, daß wir uns dem Ziel näherten. Ich benutzte die anderen Flotten als Orientierungspunkte.
Am achten Tag unserer Reise standen wir dicht vor Amber. Und da brach das Unwetter los.
Das Meer wurde dunkel, die Wolken zogen sich über uns zusammen, und die Segel erschlafften in der beginnenden Flaute. Die Sonne verhüllte ihr Gesicht – ein riesiges blaues Gesicht –, und ich hatte das Gefühl, daß Eric uns endlich aufgespürt hatte.
Dann brach der Sturm los und fiel über mein Schiff her.
Wir wurden vom Unwetter angesprungen, vom Sturm zerfetzt. Ich fühlte mich innerlich ganz weich und haltlos, als die ersten Böen kamen. Wie Würfel in der Hand eines Riesen wurden wir hin und her geschleudert. Wir rasten über das Wasser und durch das Wasser, das vom Himmel rauschte. Der Himmel wurde schwarz, und Hagel mischte sich mit den glasiggrellen Glockensträngen, die den Donner einläuteten. Ich bin sicher, daß niemand stumm blieb in diesem Tosen – ich jedenfalls habe geschrien. Ich tastete mich über das schwankende Deck, um das verlassene Steuerruder zu übernehmen. Ich band mich fest und hielt das Ruder in den Händen. Eric hatte aus Amber losgeschlagen, soviel war sicher.
Eins, zwei, drei, vier Stunden – und der Sturm ließ nicht nach. Schließlich fünf Stunden. Wie viele Männer hatten wir verloren? Ich wußte es nicht.
Dann spürte und hörte ich ein Kribbeln und Klimpern und sah Bleys wie durch einen langen grauen Tunnel.
»Was ist los?« fragte er. »Ich habe andauernd versucht, dich zu erreichen.«
»Das Leben ist voller Unannehmlichkeiten«, erwiderte ich. »Wir plagen uns gerade mit einer herum.«
»Sturm?«
»Darauf kannst du jede Wette eingehen. Der Urvater aller Orkane. An Backbord scheint sich gerade ein Ungeheuer herumzutreiben. Wenn es überhaupt Verstand hat, wird es sich auf den Meeresboden zurückziehen . . . ja, das tut es jetzt.«
»Wir haben auch gerade eins gehabt«, meldete Bleys.
»Ein Unwetter oder Ungeheuer?«
»Unwetter«, entgegnete er. »Zweihundert Tote.«
»Beiß die Zähne zusammen«, sagte ich, »halte die Stellung und melde dich später wieder. In Ordnung?«
Er nickte, und ich sah hinter ihm die Blitze zucken.
»Eric hat uns aufgespürt«, fügte er hinzu, ehe er die Verbindung unterbrach.
Da mußte ich ihm recht geben.
Es dauerte drei Stunden, bis ich erfuhr, daß wir die Hälfte der Flotte verloren hatten (auf meinem Schiff – dem Flaggschiff – betrugen die Verluste ein Drittel von hundertundzwanzig Mann). Es war ein schweres Los.
Irgendwie schafften wir es in das Meeresgebiet über Rebma.
Ich nahm meine Karte zur Hand und hielt mir Randoms Bild vor Augen.
Als ihm klar wurde, wer sich meldete, sagte er sofort: »Kehrt um«, und ich fragte ihn nach dem Grund.
»Weil mir Llewella gesagt hat, Eric könnte euch mühelos in die Tasche stecken. Sie meint, ihr solltet eine Zeitlang warten, bis seine Wachsamkeit nachläßt, und dann zuschlagen – etwa in einem Jahr.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das geht nicht. Um überhaupt bis hierher zu kommen, haben wir schon zu viele Verluste erleiden müssen. Jetzt oder nie.«
Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich habe dich gewarnt.«
»Warum ist Eric so stark?« erkundigte ich mich.
»Vor allem weil er hier in der Gegend das Wetter kontrollieren kann, wie ich gerade erfahren habe.«
»Trotzdem müssen wir es riskieren.«
Wieder zuckte er die Achseln.
»Weiß er bestimmt, daß wir im Anmarsch sind?«
»Was glaubst du denn? Ist er ein Dummkopf?«
»Nein.«
»Dann weiß er Bescheid. Wenn ich es in Rebma schon erraten konnte, dann hat er in Amber Gewißheit darüber – und ich habe es tatsächlich erraten, anhand eines Schwankens in den Schatten.«
»Leider«, meinte ich, »habe ich hinsichtlich unserer Expedition ein dummes Gefühl, aber es ist Bleys’ Feldzug.«
»Steig doch aus und laß ihn allein zur Schlachtbank gehen.«
»Tut mir leid, das Risiko kann ich nicht eingehen. Er könnte siegen. Ich führe die Flotte heran.«
»Du hast mit Caine und Gérard gesprochen?«
»Ja.«
»Dann rechnest du dir auf dem Meer sicher eine Chance aus. Aber hör mir mal genau zu, Eric hat eine Möglichkeit gefunden, das Juwel des Geschicks zu kontrollieren – diese Tatsache geht aus Gerüchten über sein Doppel hervor. Zumindest kann er es einsetzen, um hier das Wetter zu beherrschen – soviel steht fest. Gott allein weiß, was er sonst noch damit anrichten kann.«
»Schade«, sagte ich. »Wir müssen’s über uns ergehen lassen. Wir können uns nicht von ein paar Stürmen entmutigen lassen!«
»Corwin, ich will ehrlich sein. Ich habe vor drei Tagen mit Eric gesprochen.«
»Warum?«
»Er hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Dabei hat er detailliert über seine Abwehr gesprochen.«