»Wie lange ist das alles her?« wollte ich wissen.
»Hm. Vierunddreißig Tage«, erwiderte er. »Ich meine, an dem Tag tauchte Random auf. Eine Woche später äußerte Vialle ihre Bitte.«
»Sie muß eine seltsame Frau sein, wenn sie Random wirklich liebt.«
»Derselbe Gedanke ist mir auch gekommen«, erwiderte er. »Ein ungewöhnlicheres Paar kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Wenn du ihn wiedersiehst, richte ihm doch bitte meine Grüße und mein Bedauern aus.«
»Ja.«
»Wie geht es meinen Schwestern?«
»Deirdre und Llewella wohnen weiterhin in Rebma. Lady Florimel steht bei Eric in hoher Gunst und nimmt bei Hof eine hohe Stellung ein. Wo Fiona im Augenblick ist, weiß ich nicht.«
»Hat man mal wieder von Bleys gehört? Ich bin sicher, daß er tot ist.«
»Er muß tot sein«, sagte Rein. »Allerdings wurde seine Leiche nicht gefunden.«
»Und was ist mit Benedict?«
»Verschollen wie eh und je.«
»Und Brand?«
»Kein Wort von ihm.«
»Damit hätten wir wohl den ganzen Stammbaum abgegrast, wie er sich im Augenblick darstellt. Hast du in letzter Zeit neue Balladen geschrieben?«
»Nein«, sagte er. »Ich arbeite noch an der ›Belagerung von Amber‹, aber wenn überhaupt etwas daraus wird, dann wohl ein Untergrunderfolg.«
Ich streckte die Hand durch die winzige Öffnung in der Tür.
»Ich möchte dir gern die Hand drücken«, sagte ich und spürte seine Hand an der meinen. »Es war lieb von dir, daß du mir diese Freude gemacht hast. Aber laß es dabei bewenden. Es wäre töricht, Erics Zorn zu wecken.«
Er drückte mir die Hand, murmelte etwas und war verschwunden.
Ich ertastete sein Paket und stopfte mich mit dem Fleisch voll, bei dem es sich um den verderblichsten Teil der Nahrungsmittel handelte. Dazu verzehrte ich einen großen Teil des Brots und erkannte dabei, daß ich fast vergessen hatte, wie gut es einem schmecken kann. Darauf wurde ich müde und schlief ein. Ich glaube nicht, daß ich sehr lange geschlummert habe; als ich wieder erwachte, öffnete ich eine der Weinflaschen.
In meinem geschwächten Zustand brauchte ich gar nicht viel zu trinken, um angeheitert zu sein. Ich nahm eine Zigarette, setzte mich auf meine Matratze, lehnte mich an die Wand und überlegte.
Ich erinnerte mich an Rein als Kind. Ich war damals schon erwachsen, und er war Anwärter für den Posten des Hofnarren. Ein hagerer, intelligenter Jüngling. Seine Mitmenschen hatten ihn zu oft verspottet, ich eingeschlossen. Aber ich komponierte Musik und schrieb Balladen, und er hatte sich irgendwo eine Gitarre besorgt und sich das Spielen beigebracht. Bald sangen wir zusammen. Mit der Zeit wuchs meine Zuneigung zu ihm, und wir übten zusammen an den Waffen. Er stellte sich dabei ziemlich ungeschickt an, doch es tat mir irgendwie leid, wie ich ihn früher behandelt hatte, wo er doch so positiv auf meine lyrischen Werke eingegangen war, und so lehrte ich ihn die Finten und machte ihn zu einem passablen Säbelfechter. Ich hatte diese Handlungsweise nie bedauern müssen, und er wohl auch nicht. Nach einiger Zeit wurde er Sänger am Hofe Ambers. Die ganze Zeit hindurch hatte ich ihn meinen Pagen genannt, und als die Kriege gegen die düsteren Dinge aus den Weirmonken genannten Schatten auszubrechen drohten, machte ich ihn zu meinem Waffengefährten. Wir waren gemeinsam in den Kampf geritten. Ich schlug ihn noch auf dem Schlachtfeld bei den Jones-Fällen zum Ritter, eine Auszeichnung, die er sich verdient hatte. Danach hatte er sich fortentwickelt und mich in Dichtkunst und Musik sogar überrundet. Seine Farbe war das Scharlachrot, seine Worte waren golden. Ich liebte ihn, zählte ihn zu meinen zwei oder drei Freunden in Amber. Ich hatte allerdings nicht angenommen, daß er das Risiko eingehen würde, mir eine anständige Mahlzeit zu bringen. Das hatte ich von niemandem erwartet. Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche und rauchte eine weitere Zigarette, auf ihn, zu seinen Ehren. Er war ein guter Kamerad. Ich fragte mich, wie lange er dies alles überleben würde.
Ich warf die Zigarettenstummel in die Toilette und – nach einiger Zeit – auch die leere Flasche. Ich wollte nichts in der Zelle behalten, was auf ein Gelage schließen ließ, falls eine plötzliche Inspektion stattfand. Ich verzehrte all die guten Sachen, die er mir gebracht hatte, und fühlte mich zum erstenmal in dieser Zelle voll gesättigt. Ich hob mir die letzte Flasche für einen hübschen Vollrausch und eine angenehme Zeit des Vergessens auf. Und als das vorbei war, kehrte ich in meinen Teufelskreis der Vorwürfe zurück.
In erster Linie hoffte ich, daß Eric keine Ahnung von unserer umfassenden Macht hatte. Gewiß, er war König in Amber, aber er wußte nicht alles. Noch nicht. Nicht in dem Umfang, wie Vater Bescheid gewußt hatte. Es gab eine Chance von eins zu einer Million, die sich vielleicht trotz allem zu meinen Gunsten auswirken konnte. Dermaßen umfassend und dermaßen überraschend, daß mir diese Chance zumindest half, einen letzten Rest von Verstand zu bewahren, obwohl ich von Verzweiflung geschüttelt wurde.
Vielleicht war ich dennoch eine Zeitlang verrückt, ich weiß es nicht. Es gibt Tage, die für mich eine einzige große Leere darstellen, jetzt da ich hier am Rande des Chaos stehe. Gott allein weiß, was in dieser Zeit vorging, und ich werde niemals einen Seelenarzt aufsuchen, um mehr darüber zu erfahren.
Ihr lieben Ärzte, unter euch ist ohnehin niemand, der mit meiner Familie fertig würde!
Ich lag in meiner Zelle oder wanderte in der lähmenden Dunkelheit hin und her. Meine Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen nahm zu. Ich erlauschte das Rascheln von Rattenfüßchen im Stroh, das ferne Stöhnen anderer Gefangener, die widerhallenden Schritte eines Wächters, der sich mit einem Essenstablett näherte. Aus solchen Details begann ich Entfernungen und Richtungen abzuleiten.
Vermutlich wurde ich auch empfänglicher für Düfte, doch über diesen Aspekt versuchte ich nicht allzu gründlich nachzudenken. Neben den denkbar unangenehmen Düften machte sich lange Zeit etwas bemerkbar, das ich für den Geruch verwesenden Fleisches hielt. Ich überlegte. Wenn ich hier starb, wieviel Zeit würde vergehen, ehe jemand etwas merkte? Wie viele Stücke Brot und Schalen mit undefinierbarer Suppe mußten ungegessen bleiben, ehe der Wächter darauf kam, die Fortdauer meiner Existenz zu überprüfen?
Die Antwort auf diese Frage konnte noch sehr wichtig sein.
Der Todesgestank hielt sich eine ganze Weile. Ich versuchte, mir wieder einen Begriff von der Zeit zu machen und gewann den Eindruck, daß der Geruch über eine Woche lang bemerkbar war.
Obwohl ich mir den Vorrat vorsichtig einteilte und den Versuchungen so lange wie möglich widerstand, kam schließlich doch der Augenblick, da ich nur noch eine Packung Zigaretten hatte.
Ich riß sie auf und zündete mir eine an. Ich hatte einen ganzen Karton besessen und hatte nun elf Packungen aufgebraucht. Das waren zweihundertundzwanzig Zigaretten. Ich hatte einmal die Zeit ausgerechnet, die ich für eine Zigarette brauchte – sieben Minuten. Das ergab eine Gesamtzeit von eintausendfünfhundertundvierzig Rauchminuten – fünfundzwanzig Stunden und vierzig Minuten. Ich war sicher, daß zwischen jeder Zigarette und der nächsten mindestens eine Stunde gelegen hatte, eher anderthalb Stunden. Nehmen wir anderthalb. Außerdem mußte berücksichtigt werden, daß ich täglich sechs bis acht Stunden schlief. Damit blieben sechzehn bis achtzehn Stunden. Ich vermutete, daß ich zehn bis zwölf Zigaretten am Tag geraucht hatte. Seit Reins Besuch mochten also etwa drei Wochen vergangen sein. Er hatte mir damals erzählt, die Krönung liege vier Monate und zehn Tage zurück, was den Schluß nahelegte, daß ich nun etwa fünf Monate hier im Kerker war.
Ich streckte die letzte Packung, genoß jede einzelne Zigarette wie das Zusammensein mit einer Frau. Als ich die letzte Zigarette aufgeraucht hatte, war ich deprimiert.
Inzwischen mußte ziemlich viel Zeit vergangen sein.
Ich begann mir Gedanken über Eric zu machen. Wie stellte er sich als Herrscher an? Mit welchen Problemen schlug er sich herum? Was führte er im Schilde? Warum war er nicht gekommen, um mich zu quälen? War es möglich, daß man mich in Amber wirklich vergaß – auch wenn es vom Herrscher so angeordnet wurde?