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Nein, sagte ich mir.

Und was war mit meinen Brüdern? Warum hatte sich keiner von ihnen mit mir in Verbindung gesetzt? Es wäre ganz einfach gewesen, meinen Trumpf zu ziehen und Erics Verbot zu brechen.

Doch niemand tat diesen Schritt.

Ich dachte lange an Moire, die letzte Frau, die ich geliebt hatte. Was tat sie in diesem Augenblick? Dachte sie überhaupt noch an mich? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht war sie längst Erics Geliebte oder gar seine Königin. Hatte sie mich ihm gegenüber erwähnt? Wahrscheinlich nicht.

Und meine Schwestern? Vergiß sie. Hexen, sie alle.

Ich war schon einmal geblendet worden, von einem Kanonenblitz im achtzehnten Jahrhundert auf der Schatten-Erde. Der Zustand hatte aber nur etwa einen Monat gedauert, danach hatte ich wieder sehen können. Mit seinem Befehl hatte Eric allerdings eine dauerhaftere Regelung im Sinne gehabt. Noch immer hatte ich Schweißausbrüche und zitterte, erwachte zuweilen von meinem eigenen Geschrei, sobald mich die Erinnerung heimsuchte an die weißglühenden Eisen vor meinen Augen – und dann die Berührung, als sie mir die sonnenhellen Spitzen in die Augenhöhlen stießen.

Ich stöhnte leise auf und setzte meinen Weg fort.

Ich konnte überhaupt nichts unternehmen. Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Ich war so hilflos wie ein Embryo. Wiedergeboren zu werden in Licht und Zorn – dafür hätte ich meine Seele verschenkt. Und wenn es nur für eine Stunde gewesen wäre, mit der Klinge in der Hand, um mich noch einmal gegen meinen Bruder zu stellen.

Ich legte mich auf die Matratze und schlief. Als ich wieder erwachte, standen Lebensmittel vor mir, und ich aß und schritt wieder auf und ab. Finger- und Zehennägel hatte ich wachsen lassen. Mein Bart war inzwischen sehr lang, und das Haar fiel mir ständig ins Gesicht. Ich fühlte mich unbeschreiblich schmutzig und mußte mich andauernd kratzen. Ich fragte mich, ob ich Flöhe hatte.

Daß ein Prinz von Amber in diesen Zustand versetzt werden konnte, erweckte eine schreckliche Emotion im Kern meines Wesens, wo immer der liegen mag. Ich war in dem Glauben aufgezogen worden, wir seien unbesiegbar – sauber, nüchtern und diamanthart wie unsere Bilder auf den Trümpfen. Offensichtlich war dies nicht der Fall.

Wenigstens waren wir soweit menschenähnlich, daß wir eine gewisse Findigkeit unser eigen nannten.

Ich erdachte Spiele, erzählte mir Geschichten, ließ mir angenehme Erinnerungen durch den Kopf gehen – von denen ich viele besaß. Ich erinnerte mich an die Elemente, Wind, Regen, Schnee, die Wärme des Sommers und die kühlen Böen des Frühlings. Auf der Schatten-Erde hatte ich ein kleines Flugzeug besessen, und das Gefühl des Fliegens war herrlich gewesen. Ich dachte an die schimmernden Panoramen aus Farbe und Tiefe, die Miniaturisierung der Städte, die blaue Unendlichkeit des Himmels, die Herden von Wolken (wo waren sie jetzt?) und an die saubere Weite des Ozeans unter den Tragflächen. Ich erinnerte mich an Frauen, die ich geliebt hatte, an Parties und militärische Aktionen. Und wenn ich mit allem durch war und nicht mehr anders konnte, dachte ich an Amber.

Und während ich einmal daran dachte, begannen meine Tränendrüsen wieder zu funktionieren. Ich weinte.

Nach einer unendlichen Zeit, einer Zeit voller Dunkelheit und unbestimmbaren Schlafperioden, vernahm ich Schritte, die vor meiner Zellentür verhielten, und ich hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde.

Reins Besuch lag so weit zurück, daß ich den Geschmack des Weins und der Zigaretten vergessen hatte. Ich vermochte die Zeitspanne nicht abzuschätzen – jedenfalls war eine lange Zeit vergangen.

Zwei Männer befanden sich auf dem Korridor, das vermochte ich den Schritten zu entnehmen, ehe sie etwas sagten.

Eine der Stimmen kannte ich.

Die Tür ging auf, und Julian nannte meinen Namen.

Ich antwortete nicht sofort, und er wiederholte seinen Ruf.

»Corwin? Komm her!«

Da ich kaum eine andere Wahl hatte, stemmte ich mich hoch und trat vor. Ich blieb stehen, als ich spürte, daß ich dicht vor ihm stand.

»Was willst du?«

»Komm mit!« Und er packte mich am Arm.

Wir gingen durch den Korridor, und er sagte nichts, und ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als ihm eine Frage zu stellen.

Die Echos verrieten mir den Augenblick, da wir den großen Saal betraten. Gleich darauf führte er mich die Treppe hinauf.

Wir stiegen empor und erreichten den eigentlichen Palast.

Ich wurde in ein Zimmer geführt und in einen Sessel gedrückt. Ein Friseur machte sich an meinem Haar und Bart zu schaffen. Ich erkannte seine Stimme nicht, als er mich fragte, ob er den Bart stutzen oder ganz abschneiden sollte.

»Abschneiden«, sagte ich, während sich jemand daran machte, meine Finger- und Fußnägel zu maniküren.

Dann wurde ich gebadet, und jemand half mir in saubere Sachen, die lose an mir herabhingen. Außerdem wurde ich entlaust, aber das sollten Sie lieber vergessen.

Dann wurde ich an einen anderen düsteren Ort geführt, wo es Musik, herrliche Essensgerüche, Stimmengemurmel und Gelächter gab. Ich erkannte den Speisesaal.

Die Stimmen wurden etwas leiser, als Julian mich hereinführte und Platz nehmen ließ.

Ich blieb sitzen, bis die Fanfarenstöße erklangen, woraufhin ich aufstehen mußte.

Ich hörte den Trinkspruch.

»Auf Eric den Ersten. König von Amber! Lang lebe der König!«

Ich trank nicht, was aber niemand zu bemerken schien. Caines Stimme hatte den Spruch ausgebracht, ein gutes Stück weiter oben am Tisch.

Ich aß soviel ich konnte, denn es war das beste Essen, das mir seit der Krönung vorgesetzt worden war. Aus Gesprächen, die ich mitbekam, ging hervor, daß heute der Jahrestag von Erics Krönung war – ich hatte also ein ganzes Jahr in meinem Verlies zugebracht!

Niemand richtete das Wort an mich, und ich bemühte mich auch nicht um ein Gespräch. Ich war lediglich als Gespenst zugegen. Sicher um mich zu erniedrigen, aber auch als lebendes Mahnmal für meine Brüder – das Opfer einer Auflehnung gegen den Herrscher. Und allen war befohlen worden, mich zu vergessen.

Das Fest währte bis tief in die Nacht. Irgend jemand versorgte mich ständig mit Wein, immerhin, und ich saß da und lauschte auf die Musik und die Tänze.

Inzwischen waren die Tische fortgeräumt worden, und ich saß irgendwo in einer Ecke.

Ich betrank mich sinnlos und wurde schließlich am Morgen in meine Zelle zurückgeschleift. Ich bedauerte nur, daß mir nicht richtig übel geworden war. Zu gern hätte ich jemandem auf den sauberen Boden oder über das Hemd gekotzt.

So ging mein erstes Jahr der Dunkelheit zu Ende.

9

Ich möchte Sie nicht mit Wiederholungen langweilen. Das zweite Jahr verlief mehr oder weniger wie das erste und hatte dasselbe Finale. Das dritte ebenso. Im zweiten Jahr besuchte mich Rein zweimal mit einem Korb voller schöner Sachen und einem Mund voller Klatsch. Beide Male verbat ich ihm, mich jemals wieder aufzusuchen. Im dritten Jahr ließ er sich sechsmal sehen, jeden zweiten Monat, und jedesmal wiederholte ich mein Verbot und aß seine Gaben und hörte mir an, was er zu sagen hatte.

Irgend etwas stimmte nicht in Amber. Seltsame Dinge bewegten sich durch die Schatten und machten sich überall gewalttätig bemerkbar. Natürlich wurden sie vernichtet. Eric versuchte sich noch darüber klar zu werden, wie sie sich hatten bilden können. Ich sagte nichts von meinem Fluch, wenn ich mich auch innerlich freute, daß er solche Wirkungen gezeitigt hatte.

Random war ebenso wie ich noch gefangen. Inzwischen hatte er jedoch seine Frau bei sich. Die Stellung meiner anderen Brüder und Schwestern war unverändert. Dies half mir durch den dritten Jahrestag der Krönung, verlieh mir das Gefühl, fast wieder am Leben zu sein.

Es.

Es! Eines Tages war es da, und es erfüllte mich mit einem solchen Wohlgefühl, daß ich sofort die letzte Flasche Wein aufmachte und die letzte Schachtel Zigaretten anbrach, die ich mir aufgehoben hatte.