Er stieß sich von der Felssäule ab, obwohl er in dem dichten Rauch nichts sehen konnte. Rechts von ihm glühte etwas, und er hörte ein dumpfes Fauchen. Ein Feuer?
Er wandte sich nach links.
Ein versengtes Kaninchen lag auf dem Boden. Er stupste es mit dem Stiefel an, und das arme Ding zuckte krampfhaft, kippte auf den Rücken, sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch, die Augen waren vor Angst weit aufgerissen.
»Doke!«, rief er und fragte sich dann: Wer ist Doke?
»Hilf mir, Jesus«, stöhnte er. Zittrig kniete er sich hin, faltete die Hände und hob sie gen Himmel. Der Rauch wirbelte um ihn herum. Er hustete, und seine Augen tränten. »Hilf mir, Jesus.«
Nichts. Ein fernes Rumpeln. Rechts von ihm stieg das flackernde Leuchten höher, wie eine orangerote Klaue, die am Himmel zerrte. Der Boden begann zu beben.
»Jesus! Hilf mir!«
Eddy betete inbrünstig, doch keine Stimme antwortete ihm, keine Worte, nichts drang in seinen Kopf.
»Rette mich, Herr Jesus!«, rief er laut.
Und dann, ganz plötzlich, erschien eine weitere Gestalt in der Dunkelheit. Eddy rappelte sich auf, überwältigt vor Erleichterung. »Jesus, hier bin ich! Hilf mir!«
Eine Stimme sagte: »Ich sehe dich.«
»Danke, oh, ich danke dir! Im Namen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus!«
»Ja«, sagte die Stimme.
»Wo bin ich, was ist das für ein schrecklicher Ort?«
»Wunderschön …«, sagte die dunkle Gestalt.
Eddy schluchzte vor Erleichterung. Er hustete krampfhaft in sein zerfetztes Taschentuch, auf dem ein schwarzer, feuchter Fleck zurückblieb.
»Wunderschön … Ich bringe dich dorthin, wo es wunderschön ist.«
»Ja, bitte, bring mich hier weg!« Eddy streckte die Hände aus.
»So wunderschön hier unten …«
Der rötliche Feuerschein rechts von ihm flackerte plötzlich auf und tauchte alles in ein grausiges, glutrotes Licht. Die Gestalt, dunkelrot beleuchtet, trat näher, und Eddy konnte nun sein Gesicht sehen, das Tuch um seinen Kopf, die langen Zöpfe auf den Schultern, einer halb gelöst, die dunklen, undurchdringlichen Augen, die hohe Stirn …
Lorenzo!
»Du …« Eddy wich zurück. »Aber … du bist … tot. Ich habe dich sterben sehen.«
»Tot? Die Toten können nicht sterben. Das weißt du doch. Die Toten leben weiter, verbrannt und gequält von dem Gott, der sie erschaffen hat. Dem Gott der Liebe. Verbrannt, weil sie an Ihm zweifelten, weil sie verwirrt, zögerlich oder rebellisch waren; gefoltert von ihrem Vater und Schöpfer, weil sie nicht an Ihn geglaubt haben. Komm mit … und ich werde es dir zeigen …« Die Gestalt streckte mit gespenstischem Lächeln die Hand aus, und nun erst bemerkte Eddy das Blut; Lorenzos Kleider waren vom Hals abwärts mit Blut getränkt, als hätte ihn jemand in ein Fass voll Blut getaucht.
»Nein … hinfort mit dir …« Eddy wich zurück. »Hilf mir, Jesus …«
»Ich werde dir helfen … Ich bin hier, um dich an diesen guten, schönen Ort zu geleiten …«
Der Boden bebte und tat sich unter Eddys Füßen auf, verwandelte sich urplötzlich in einen gleißenden, glühenden, brüllenden Glutofen. Eddy fiel, fiel in die schreckliche Hitze, die unvorstellbare Hitze …
Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch kein Laut drang heraus.
Nie wieder.
80
Lockwood sah auf die große Uhr, die hinter dem Platz des Präsidenten an der Wand hing. Acht Uhr morgens. Die Sonne war aufgegangen, der Rest der Welt ging zur Arbeit, der Verkehr auf dem Beltway geriet allmählich ins Stocken.
Genau da war er gestern um diese Zeit gewesen: in seinem Auto, im Stau auf dem Beltway, die Klimaanlage voll aufgedreht, mit Steve Inskeep im National Public Radio.
Heute war die Welt verändert.
Die Nationalgarde war auf der Red Mesa gelandet, pünktlich um vier Uhr fünfundvierzig, in der Landezone gut vier Kilometer vom ehemaligen Standpunkt Isabellas entfernt. Ihr Auftrag jedoch hatte sich geändert. Aus dem Angriff war eine Rettungsmission geworden – Evakuierung der Verletzten und Bergung der Toten von der Red Mesa. Das Feuer war völlig außer Kontrolle geraten. Die Mesa, durchsetzt von dicken Kohlenflözen, würde vermutlich noch hundert Jahre lang brennen, bis es den Berg nicht mehr gab.
Isabella war verloren. Die Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine war ein zertrümmertes, brennendes Wrack, über die halbe Mesa verteilt oder mitsamt den Klippen abgesprengt und auf den Wüstenboden herabgestürzt.
Der Präsident betrat den Krisensitzungsraum, und alle standen auf. »Behalten Sie Platz«, knurrte er, klatschte ein paar Blatt Papier auf den Tisch und setzte sich. Er hatte zwei Stunden geschlafen, doch die Pause hatte seine Laune nur verschlechtert.
»Sind wir so weit?«, fragte der Präsident. Er drückte auf einen Knopf an seinem Sessel, und das kantige Gesicht des FBIDirektors, dessen graumeliertes Haar noch immer so perfekt saß wie sein makelloser Anzug, erschien auf dem Monitor.
»Jack, bringen Sie uns auf den neuesten Stand.«
»Ja, Mr. President. Die Situation ist unter Kontrolle.«
Die Lippen des Präsidenten zuckten skeptisch.
»Wir haben die Mesa evakuiert. Die Verletzten wurden per Hubschrauber auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt. Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass offenbar unser gesamtes Geiselrettungsteam in einem bewaffneten Konflikt ums Leben gekommen ist.«
»Und die Wissenschaftler?«, fragte der Präsident.
»Das Isabella-Team scheint verschwunden zu sein. Keine Überlebenden, keine Leichen.«
Der Präsident barg den Kopf in den Händen. »Keine Spur von den Wissenschaftlern?«
»Nichts. Einige von ihnen sind womöglich zum Zeitpunkt des Angriffs in die alte Mine geflüchtet. Wahrscheinlich sind sie dort jedoch Opfer der Explosion, des Feuers oder eines Einsturzes geworden. Wir sind übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass sie wohl nicht mehr am Leben sind.«
Der Präsident blieb mit gesenktem Kopf still sitzen.
»Wir haben immer noch keine Information darüber, was eigentlich passiert ist, warum Isabellas Kommunikationswege abgeschnitten wurden. Es könnte etwas mit dem Angriff zu tun haben – wir wissen es einfach nicht. Wir haben Leichen und Leichenteile zu Hunderten abtransportiert, viele sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wir suchen immer noch nach der Leiche von Russell Eddy, dem geistesgestörten Prediger, der die Leute übers Internet so aufgehetzt hat. Es könnte Wochen dauern, sogar Monate, bis wir alle Toten lokalisiert und identifiziert haben. Manche werden wir nie finden.«
»Was ist mit Spates?«, fragte der Präsident.
»Wir haben ihn in Gewahrsam genommen und befragen ihn gerade. Meinen Berichten zufolge ist er kooperativ. Außerdem haben wir Booker Crawley von Crawley and Stratham in der K Street verhaftet.«
»Den Lobbyisten?« Der Präsident blickte auf. »Was hat er denn damit zu tun?«
»Er hat Spates unter der Hand dafür bezahlt, dass er gegen Isabella predigt, damit er seinem Kunden, der Navajo Nation, mehr Honorar abknöpfen konnte.«
Der Präsident schüttelte fassungslos den Kopf.
Galdone, der Wahlkampfmanager, richtete seinen massigen Leib auf. Sein blauer Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen, die Krawatte, als hätte er seinen Buick damit poliert. Er musste sich dringend mal rasieren. Eine wirklich abscheuliche Kreatur, dachte Lockwood. Nun machte der Mann sich mit viel Aufhebens bereit, zu sprechen, und alle wandten sich ihm zu wie einem Orakel.
»Mr. President«, hob Galdone an, »wir müssen dieser Geschichte eine bestimmte Form geben. In diesem Augenblick wird die Rauchwolke über der Wüste auf jedem Fernsehgerät in Amerika gezeigt, und das Land wartet auf Antworten. Zum Glück haben die abgeschiedene Lage der Red Mesa und unsere raschen Bemühungen, den Luftraum und die Zufahrtswege zu sperren, die Presse zum größten Teil ferngehalten. Immerhin können sie keine grausigen Details senden. Wir haben also immer noch die Chance, dieses unsägliche Debakel in eine wählerfreundliche Geschichte zu verwandeln, mit der wir öffentliche Zustimmung finden.«