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Im vergangenen Monat hatte Ford viel nachgedacht. Er hatte Hazelius’ Brillanz erkannt. Das Red-Mesa-Debakel hatte es zu einer Religion gebracht und ihn selbst als den bedeutendsten Propheten und Märtyrer der neuen Bewegung etabliert. Die Red Mesa, Hazelius’ schrecklicher Opfertod und sein tragisches Erbe – das war der Stoff, aus dem Mythen und Legenden entstanden, eine Geschichte wie die von Buddha, Krishna, Medina und Mohammed, die Geburt in der Krippe, das Letzte Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung. Hazelius und die Geschichte von Isabella war nichts anderes, eine Geschichte, die alle Gläubigen miteinander teilten, eine Geschichte, die ihren Glauben belebte und ihnen sagte, wer sie waren und warum es sie gab.

Sie war zu einer der größten Geschichten geworden, die je erzählt worden waren.

Hazelius hatte seine Sache durchgezogen – und zwar brillant. Er hatte sogar recht behalten, was seinen Märtyrertod anging, seine feurige Verwandlung, die Gewissen und Vorstellungskraft der Menschen auf unvergleichliche Weise gepackt hatte. Im Tod war er eine moralische Instanz geworden, ein Prophet und spiritueller Anführer.

Es war schon fast Mittag, und der Barkeeper stellte den Fernseher lauter. Die Mittagsgäste an der Bar – Lastwagenfahrer, Rancher aus der Umgebung und ein paar Touristen – richteten ihre gebannte Aufmerksamkeit auf das Gerät.

Vom Nachrichtenstudio wurde zu einem Reporter vor Ort in Colorado umgeblendet. Der Mann stand in der riesigen Menge und umklammerte sein Mikrophon. Er schwitzte, und sein Gesicht strahlte mit derselben Inbrunst, die auch die anderen Menschen dort erfasst hatte. Sie war wohl ansteckend. Die Leute um ihn herum sangen und jubelten und schwenkten Banner, die eine verkrüppelte, brennende Pinyon-Kiefer zeigten.

Der Reporter begann seinen Bericht, wobei er über den Lärm der Menge hinwegschreien musste, und bezeichnete das Ereignis als »religiöses Woodstock« und eine »Versammlung, geprägt von Hingabe, Mitgefühl und Liebe«.

Na, dachte Ford, wenigstens gibt es diesmal weder Regengüsse noch Drogen.

Hinter der Holzbühne stand eine große, rote Scheune im New-England-Stil mit weiß abgesetzten Türen und Fenstern. Die Kamera zoomte auf die Tür. Die Menge wurde still. Genau um zwölf Uhr mittags wurden die beiden Türflügel aufgestoßen, und sechs weißgekleidete Menschen traten ins Sonnenlicht.

Die Menge brüllte wie ein Donnerschlag, wie die Brandung, wie das Meer selbst – prachtvoll, monumental, endzeitlich.

Fords Herz setzte einen Schlag aus, als Kate zur Bühne schritt, ein dünnes, in Leder gebundenes Buch an die Brust gedrückt. Sie war überwältigend schön in einem schlichten weißen Kleid und schwarzen Handschuhen, die ihr pechschwarzes Haar und die blitzenden Ebenholzaugen betonten. Sie wurde flankiert von Melissa Corcoran, ebenfalls schlicht in Alabasterweiß gekleidet – die ehemaligen Gegnerinnen waren zu Freundinnen und Verbündeten geworden.

Vier weitere Leute folgten ihnen – und da standen sie alle auf der Bühne, die sechs Überlebenden des Angriffs auf Isabella … Chen, St. Vincent, Innes und Cecchini. Sie wirkten verändert, beinahe überlebensgroß, als hätte die gemeinsame Berufung und Aufgabe ihre engstirnige Kleinlichkeit überwunden. Sie winkten lächelnd in die Menge, und ihre Gesichter strahlten. Jeder von ihnen trug als einzigen Schmuck eine silberne Anstecknadel am weißen Gewand, die stilisierte, brennende Pinyon-Kiefer.

Der donnernde Applaus der Menge hielt volle fünf Minuten an. Kate trat allein ans Podium und ließ den Blick über die gewaltige Versammlung schweifen. Ihr glänzendes Haar, schwarz wie Rabenflügel, schimmerte im Sonnenlicht, und ihre Augen blitzten vor Lebendigkeit. Sie hob die Hände, und die tobende Menge verstummte.

Sie besaß ein überraschendes Charisma, dachte Ford. Letztendlich hatte sie Hazelius gar nicht gebraucht. Sie war sehr wohl in der Lage, diese Bewegung selbst aufzubauen und zu leiten, oder zumindest gemeinsam mit der außergewöhnlich schönen Corcoran. Die beiden waren jetzt Mediengöttinnen und arbeiteten eng zusammen – die eine hell, die andere dunkel, ein geradezu archetypisches Paar.

Als endlich absolute Stille herrschte, ließ Kate lächelnd den Blick über das Meer von Menschen schweifen, und aus ihren Augen strahlten Mitgefühl und Frieden. Sie legte das Buch vor sich auf das Podium und rückte es mit entspannten, gelassenen Bewegungen zurecht. Sie war eine Gläubige, sich ihrer Wahrheit vollkommen sicher, ohne jedes Anzeichen von Verwirrung oder Selbstzweifeln.

Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht. Sie hob das Buch über den Kopf, schlug es auf und hielt der Menge den Text entgegen.

»Das Wort Gottes«, verkündete sie mit starker, melodischer Stimme.

Das Meer ihrer Anhänger jubelte. Als die Kamera das Buch näher zeigte, erkannte Ford den alten Computerausdruck, den sie ihm unter der Pappel gezeigt hatte – gebügelt, gereinigt und in Leder gebunden.

Sie legte das Buch wieder vor sich hin und hob die Hände. Stille senkte sich über die Menge. Sogar in Fords Restaurant waren die Gäste von den Tischen aufgestanden und hatten sich an der Bar versammelt, wo sie Kate ehrfürchtig zuschauten.

»Ich möchte mit den letzten Worten beginnen, die Gott gesprochen hat, ehe Isabella zerstört und die Stimme Gottes zum Schweigen verurteilt wurde.«

Eine lange, lange Pause.

»Ich erkläre euch nun eure Bestimmung: die Wahrheit zu finden. Das ist der Grund für eure Existenz. Das ist eure wahre Aufgabe. Die Wissenschaft ist nur das Mittel dazu. Dies ist es, was ihr verehren sollt: die Suche nach der Wahrheit selbst. Wenn ihr diese Suche von ganzem Herzen vorantreibt, dann werdet ihr eines großen Tages in ferner Zukunft vor Mir stehen. Dies ist mein Pakt mit der Menschheit.

Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen.«

Ford sträubten sich die Haare im Nacken. Er hatte diese und auch die anderen, sogenannten Worte Gottes hundertmal gelesen. Sie waren überall, wurden im Internet verbreitet, im Fernsehen und im Radio ausgiebig besprochen, in Weblogs zitiert und an jeder Straßenecke und in jedem Café Amerikas diskutiert. Es wurden bereits die ersten Plakatwände damit tapeziert. Man konnte ihnen gar nicht ausweichen.

Und jedes Mal, wenn er sie las, beschäftigte ihn eine sehr seltsame Idee. Hazelius hatte ihm in der brennenden Mine gesagt: »Das Programm hingegen war alles andere als einfach – ich bin nicht sicher, ob ich es selbst völlig verstehe. Aber es hat Mist gebaut und eine Menge Dinge gesagt, die ich gar nicht wollte – Dinge, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Man könnte sagen, es hat sich selbst weit übertroffen.«

Sich selbst übertroffen, in der Tat. Jedes Mal, wenn er die sogenannten Worte Gottes las, kam er der Überzeugung näher, dass darin eine große Wahrheit, vielleicht die große Wahrheit, verborgen war.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Das waren die Worte Jesu, wie Johannes sie zitiert hatte. Sie riefen ihm jedes Mal einen weiteren Bibelspruch ins Gedächtnis: Gottes Wege sind unergründlich.

Vielleicht, dachte Ford, war diese neue Religion Sein unergründlichster, geheimnisvollster Weg bisher.

Anhang

Die Worte Gottes

Erste Sitzung

Seid gegrüßt.

Sei ebenfalls gegrüßt.

Es freut mich, mit dir sprechen zu können.