»Okay«, sagte Dolby laut und drohend.»Die Zeit ist um. Ich will Isabella zurückhaben.«
»Ken, wir brauchen mehr Zeit«, sagte Hazelius.
Dolby versuchte, sich an Hazelius vorbeizudrängen, doch der Physiker hielt ihn zurück.»Noch nicht.«
»Ich habe ihn fast!«, rief Chen.»Gebt mir noch eine Minute, Herrgott noch mal!«
»Nein!«, beharrte Dolby.»Ich fahre sie jetzt runter!«
»Den Teufel werden Sie tun«, sagte Hazelius.»Verflucht, Wyman, mehr Input!«
»Erkläre mir das«, tippte Ford hastig.
Wenn du an deinem Ziel angekommen bist, warum dann noch den Weg zurücklegen? Wenn du die Antwort kennst, warum die Frage stellen? Deshalb ist die Zukunft vollkommen verborgen, und das muss sie auch sein, sogar vor mir, vor Gott. Ansonsten hätte das Dasein keine Bedeutung.
»Das ist ein metaphysisches Argument, kein physikalisches«, gab Ford ein.
Das physikalische Argument lautet, dass kein Teil des Universums Dinge schneller berechnen kann als das Universum selbst. Das Universum»sagt die Zukunft voraus«, so schnell es kann.
Dolby versuchte erneut, an Hazelius vorbeizukommen, doch der Physiker trat beiseite und fing ihn ab.
»Haltet es am Reden, ich hab es gleich!«, kreischte Chen, die tippte wie der Teufel.
»Was ist das Universum?«, gab Ford ein, dem jede zufällige Frage recht war. »Wer sind wir? Was tun wir hier?«
Dolby warf sich nach vorn und stieß Hazelius beiseite. Hazelius taumelte rückwärts, fing sich aber rasch, packte den Ingenieur von hinten und zog ihn mit erstaunlicher Kraft von dem Kontrollpult zurück.
»Sind Sie denn wahnsinnig?«, brüllte Dolby und versuchte ihn abzuschütteln.»Sie zerstören meine Maschine …!«
Die beiden rangen miteinander, der schmächtige Physiker klammerte sich wie ein Affe an den breiten Rücken des Ingenieurs – und dann stürzten sie zu Boden, mit einem Krachen kippte der Sessel um.
Die anderen waren starr vor Entsetzen. Niemand wusste, wie er auf diese Prügelei reagieren sollte.
»Sie verdammter Spinner!«, brüllte Dolby, rollte sich auf dem Boden herum und versuchte, den Physiker abzuschütteln, der sich mit aller Kraft an ihm festhielt.
Die Logikbombe gab weiterhin Output an den Bildschirm.
Das Universum ist eine riesige, nicht reduzierbare, laufende Rechenoperation, deren Ergebniszustand ich nicht kenne und nicht kennen kann. Der Sinn aller Existenz ist, diesen finalen Zustand zu erreichen. Doch der Zustand selbst ist sogar für mich ein Geheimnis, und das muss er auch sein, denn wenn ich die Lösung wüsste, was sollte das Ganze dann für einen Sinn haben?
»Lassen Sie mich los!«, schrie Dolby.
»Hilf mir doch jemand«, rief Hazelius.»Lasst ihn nicht an die Tastatur!«
»Was meinst du mit Rechenoperation?«, tippte Ford ein. »Stecken wir alle in einem Computer?«
Mit Rechenoperation meine ich Denken. Die gesamte Existenz, alles, was geschieht, ist ein Denkprozess Gottes. Ein fallendes Blatt, eine Welle am Strand, der Kollaps eines Sterns – alles nur ich, alles Gott, der denkt.
»Ich hab ihn!«, rief Chen triumphierend.»Ich habe – Moment mal! Was zum Teufel …?«
»Was denkst du gerade?«, tippte Ford ein.
Dolby bäumte sich ein letztes Mal auf, riss sich von Hazelius los und warf sich auf die Konsole.
»Nein!«, kreischte Hazelius.»Nicht abschalten! Warten Sie!«
Dolby lehnte sich keuchend zurück.»Abschaltsequenz eingeleitet.«
Das summende Geräusch, das den Raum erfüllte, wurde leiser, der Bildschirm vor Ford flackerte, und die Worte lösten sich auf. Er erhaschte noch einen kurzen Blick auf eine unheimliche Gestalt, die aufflatterte und dann als Pünktchen im Zentrum des Bildschirms verschwand, dann wurde alles dunkel.
Hazelius zuckte mit den Schultern, strich seine Kleidung glatt, bürstete sich den Staub von den Schultern und wandte sich dann mit ruhiger Stimme an Chen.»Rae? Haben Sie ihn gefunden?«
Chen starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an.
»Rae?«
»Ja«, sagte sie langsam.»Ich habe ihn.«
»Und? Von welchem Prozessor kommt das Zeug?«
»Von keinem.«
Schweigen breitete sich im Kontrollraum aus.
»Was soll das heißen, von keinem?«
»Es kam von K-Null selbst.«
»Was reden Sie denn da?«
»Genau so war es. Der Output kam direkt aus dem Raum-Zeit-Loch bei K-Null.«
Im schockierten Schweigen blickte Ford sich nach Kate um. Sie stand ganz allein und sehr still am hinteren Ende der Brücke. Rasch ging er zu ihr hinüber und sagte leise zu ihr:»Kate? Alles in Ordnung?«
»Es wusste es«, flüsterte sie mit gespenstisch blassem Gesicht.»Es wusste alles.« Ihre Hand tastete nach seiner und schloss sich zitternd darum.
27
Eddy trat aus seinem Trailer, das Handtuch über der Schulter, die Rasiertasche in der Hand, und starrte auf die Kisten voll unsortierter Kleidung, die während der Woche gekommen waren. Nach seiner mitternächtlichen Fahrt auf die Mesa hatte er nicht schlafen können und fast die ganze Nacht im Internet verbracht, in den christlichen Chatrooms.
Er zog ein paar Mal am Pumpschwengel, fing das kalte Wasser mit der Hand auf und klatschte es sich ins Gesicht, um durch den Schreck ein wenig wacher zu werden. Vor lauter Müdigkeit hatte er ein ständiges Summen im Kopf.
Er seifte sich ein, rasierte sich, säuberte die Klinge in der Waschschüssel und kippte das Wasser in den Sand. Er sah zu, wie es versickerte und kleine Schaumklümpchen an der Oberfläche zurückließ. Plötzlich erinnerte ihn das an Lorenzos Blut. Mit einem Gefühl der Panik trampelte er innerlich auf dem Bild herum, um es zu vertreiben. Gott hatte Lorenzo bestraft – nicht er. Es war nicht seine Schuld – es war Gottes Wille. Gott tat niemals etwas ohne Grund. Und dieser Grund hatte etwas mit dem Isabella-Projekt zu tun – und mit Hazelius.
Hazelius. In Gedanken durchlebte er die gestrige Begegnung noch einmal. Er errötete bei der Erinnerung, und seine Hände begannen zu zittern. Immer wieder formulierte er sich vor, was er noch alles hätte sagen können; bei jedem Durchgang wurde seine Ansprache länger, eloquenter und inbrünstiger, befeuert von gerechtem Zorn. Vor aller Augen hatte Hazelius ihn als Insekt bezeichnet, als Bakterium – weil er ein Christ war. Der Mann war ein Exempel für alles, das in Amerika schieflief, ein Hohepriester im Tempel des säkularen Humanismus.
Eddys Blick huschte zu den Kisten hinüber, die vorgestern eingetroffen waren. Da Lorenzo nicht mehr da war, hatte er viel mehr Arbeit als sonst. Donnerstag war der»Kleidertag«, an dem er die gespendeten Altkleider an die Indianer verschenkte. Über das Internet hatte Russ eine Abmachung mit einem halben Dutzend Kirchengemeinden in Arkansas und Texas geschlossen, die gebrauchte Kleidung sammelten und ihm schickten, damit er sie an die bedürftigen Familien verteilen konnte.
Mit seinem Taschenmesser schlitzte Eddy die erste Pappkiste auf und begann, den mageren Inhalt zu sortieren. Er holte hier eine Jacke heraus, dort eine Jeans, und hängte die Sachen an Kleiderständer oder legte sie auf den Kunststofftischen im Schatten des Heuschuppens aus. Eifrig arbeitete er in der morgendlichen Kühle, sortierte, hängte auf, faltete zusammen. Der gewaltige Umriss der Red Mesa ragte im Hintergrund auf und waberte violett im Morgenlicht. Eddys Gedanken kreisten weiterhin um Hazelius, immer wieder spielte er sich die hässliche Szene vor. Gott hatte ihm gezeigt, was ein Gotteslästerer wie Lorenzo von Ihm zu erwarten hatte. Was würde Er dann erst mit Hazelius tun?