Выбрать главу

Ian McDonald

Cyberabad

Erster Teil — GANGA MATA

1

Shiv

Die Leiche treibt auf dem Strom. Wo die neue Brücke den Ganges in fünf Betonschritten überquert, sammeln sich Girlanden aus Zweigen und Plastik an den Pfeilern, Flöße aus Treibgut. Einen Moment lang scheint es, als könnte sich die Leiche, ein dunkler Klumpen im schwarzen Strom, darin verfangen. Das ruhig fließende Wasser nimmt sie mit, wirbelt sie herum und schleudert sie mit den Füßen voran durch den Bogen aus Stahl und Verkehr. Oben donnern Laster über die hohen Fahrbahnen. Tag und Nacht stürmen Konvois mit glänzendem Chromschmuck und kitschig bunten Götterbildern über die Brücke in die Stadt. Filmi-Musik plärrt aus den Lautsprechern auf den Wagendächern. Das seichte Wasser erzittert.

Shiv steht knietief im Fluss und nimmt einen langen Zug von seiner Zigarette. Heilige Ganga. Du hast Moksha erreicht. Du bist frei vom Chakra. Girlanden aus Tagetes wickeln sich um seine nassen Hosenbeine. Er wartet, bis die Leiche außer Sicht ist, dann schnippt er die Zigarette in einem Bogen aus roten Funken in die Nacht und watet zurück zu dem Mercedes, der bis zu den Radachsen im Fluss steht. Als er sich auf die lederne Rückbank setzt, reicht der Junge ihm seine Schuhe. Gute Schuhe. Gute Socken, italienische Socken. Nicht dieser Bharati-Mist. Zu gut, um sie dem Schlick und Schleim von Mutter Ganga zu opfern. Der Junge lässt den Motor an. Knochendürre Gestalten werden von den Scheinwerfern berührt und zerstreuen sich über den weißen Sand. Verdammte Kinder. Sie haben es bestimmt gesehen.

Der große Mercedes klettert aus dem Fluss, über den rissigen Schlamm auf den weißen Sand. So niedrig hat Shiv den Wasserstand noch nie erlebt. Den Rummel um die Göttin Ganga Devi hat er nie mitgemacht. Das ist etwas für Frauen. Ein Raja hat entweder Verstand oder ist überhaupt kein Raja. Doch es bereitet ihm Unbehagen, dass das Wasser so niedrig steht, so schwach wirkt, als würde man zusehen, wie Blut aus einer Wunde im Arm eines alten Freundes quillt, ohne dass man ihm helfen kann. Knochen knacken unter den dicken Reifen des Geländewagens. Der Mercedes zerstreut die Asche des Feuers der Uferkinder; dann schaltet Yogendra den Allradantrieb zu und fährt die Böschung hinauf, wobei er zwei Furchen durch das Blütenfeld der Tagetes schneidet. Vor fünf Jahreszeiten war der Junge noch ein Flusskind, das am Müllfeuer kauerte, im Sand wühlte und den Schlick nach Lumpen und Resten durchsiebte. Irgendwann wird er wieder dort enden. Auch Shiv wird dort enden. Das ist etwas, das ihm schon immer bewusst war. Jeder endet hier. Der Fluss trägt alle fort. Schlamm und Schädel.

Die Strömung wirbelt die Leiche herum, erfasst Streifen aus Sari-Seide und wickelt sie langsam ab. Während sie sich der niedrigen Pontonbrücke unter dem zerfallenden Fort von Ramnagar nähert, dreht sich die Leiche ein letztes Mal und streift das Gewand ab. Eine Schlange aus Seide treibt ihr voraus, verfängt sich an der abgerundeten Nase eines Pontons und umfließt ihn von beiden Seiten. Britische Pioniere haben diese Brücke erbaut, im Staat vor dem Staat vor diesem. Es sind fünfzig Pontons, die von einem schmalen Stahlband überspannt werden. Hier überquert der leichtere Verkehr den Fluss, Phatphats, Mopeds, Motorräder, Fahrradrikschas, gelegentlich ein Maruti, der sich unter ständigem Gehupe zwischen den Fahrrädern hindurchtastet, Fußgänger. Die Pontonbrücke ist ein Streifen aus Lärm, ein endloses Magnetband, das unter Rädern und Füßen vibriert. Das Gesicht der nackten Frau treibt wenige Zentimeter unter den Autorikschas vorbei.

Hinter Ramnagar öffnet sich das Ostufer zu einem breiten Sandstrand. Hier bauen die nackten Sadhus ihre Lager aus Weidenruten und Bambus und praktizieren strenge Askese, bevor sie in der Dämmerung zur heiligen Stadt schwimmen. Hinter ihren Lagerfeuern steigen hohe Gaswolken von den großen transnationalen Aufbereitungsanlagen himmelwärts. Sie werfen lange, zitternde Spiegelungen über den schwarzen Fluss und erhellen die glänzenden Rücken der Büffel, die sich im Wasser zusammendrängen, unter dem zerfallenden Assi Ghat, dem ersten der heiligen Ghats von Varanasi. Flammen tanzen auf dem Wasser; ein paar Pilger und Touristen haben Diyas in kleinen Schalen aus Mangoblättern den Wellen überlassen. Sie werden sich Kilometer um Kilometer, Ghat um Ghat sammeln, bis der Fluss eine Konstellation aus Strömungen und Lichtbändern ist, in deren Mustern die Weisen Omen und Vorzeichen erkennen, mit denen sie die Zukunft von Nationen vorhersagen. Sie erleuchten der Frau den Weg. Sie enthüllen ein Gesicht im mittleren Lebensalter. Ein Gesicht aus der Menge, ein Gesicht, das niemand vermissen wird, falls überhaupt irgendein Gesicht unter den elf Millionen Stadtbewohnern unersetzbar ist. Fünf Menschengruppen dürfen nicht an den Verbrennungsghats eingeäschert werden, sondern werden in den Fluss geworfen: Leprakranke, Kinder, schwangere Frauen, Brahmanen und jene, die von der Königskobra vergiftet wurden. Ihr Bindi verrät, dass sie zu keiner dieser Kasten gehört. Unsichtbar gleitet sie am Gedränge der Touristenboote vorbei. Ihre blassen Hände sind weich und nicht an Arbeit gewöhnt.

Scheiterhaufen brennen am Manikarnika Ghat. Trauernde tragen eine Bambusbahre die mit Asche bestreuten Stufen hinunter und über den rissigen Schlamm zum Flussufer. Sie tauchen die in Safran gehüllte Leiche ins erlösende Wasser und waschen sie, damit kein Körperteil unberührt bleibt. Dann wird sie zum Scheiterhaufen gebracht. Während die unberührbaren Doms, die am Verbrennungsghat arbeiten, Holz auf das Leinenbündel häufen, durchsieben Gestalten, die hüfttief im Ganges stehen, das Wasser mit flachen Weidenkörben, um das Gold aus der Asche der Toten zurückzugewinnen. An diesem Ghat, wo der Schöpfer Brahma einst zehn Pferde opferte, wird Mutter Ganga jeden Abend von Brahmanen ein Aarti-Opfer dargebracht. Ein Hotel in der Stadt zahlt jedem von ihnen für dieses Ritual zwanzigtausend Rupien pro Monat, doch das tut dem Eifer ihrer Gebete keinen Abbruch. Bei diesem Puja bitten sie mit Feuer um Regen. Seit drei Jahren hat es keinen Monsun mehr gegeben. Nun verwandelt der frevlerische Awadhi-Damm bei Kunda Khadar auch das letzte Blut in den Adern von Ganga Mata zu Staub. Selbst die Religionslosen und Agnostiker werfen inzwischen ihre Rosenblütenblätter auf den Fluss.

Auf dem anderen Fluss, dem Fluss der Reifen, der keine Trockenheit kennt, lenkt Yogendra den großen Mercedes durch die Mauer aus Lärm und Bewegung, die Varanasis ewiges Chakra des Verkehrs bildet. Seine Hand löst sich niemals von der Hupe, während er hinter Phatphats ausschert, um Fahrradrikschas herumkurvt, auf die falsche Straßenseite wechselt, um einer Kuh auszuweichen, die an einem alten Unterhemd kaut. Shiv ist allen Verkehrsregeln gegenüber immum; nur eine Kuh würde er niemals überfahren. Straße und Gehwege verwischen sich: Verkaufsstände, Garküchen, Tempel und Schreine, die mit Girlanden aus Tagetes behangen sind. Freien Lauf für unseren Fluss!, erklärt das handgeschriebene Transparent eines Mannes, der gegen den Damm demonstriert. Eine Gruppe von Callcenter-Jungen in ihren besten sauberen Hemden und Hosen ist auf der Jagd und ergießt sich in den Weg des Geländewagens. Fettige Hände auf der Lackierung. Yogendra beschimpft sie laut für diese Frechheit. Der Strom auf den Straßen wird schmaler und gedrängter, bis die Frauen und Pilger sich an Mauern und in Eingänge drücken müssen, um Shiv durchzulassen. In der Luft hängt der berauschende Dunst von Alkosprit. Es ist ein Triumphzug, eine Machtdemonstration. Shiv hält das kalte Metallfläschchen im Schoß und zieht in die Stadt ein, der er entstammt.

Am Anfang war Kashi, die Erstgeborene der Städte, die Schwester von Babylon und Theben und ihre einzige Überlebende, die Stadt des Lichts, wo Shivas Jyotirlinga, die göttliche Zeugungsenergie, in einer strahlenden Säule aus der Erde hervorbrach. Dann wurde sie Varanasi, die heiligste aller Städte, der Gemahl der Göttin Ganga, die Stadt des Todes und der Pilger. Sie überdauerte Imperien und Königreiche und Rajs und große Nationen, sie floss durch die Zeit, wie ihr Strom durch die große Ebene Nordindiens fließt. Dahinter wuchs New Varanasi empor, die Bollwerke und Festungen der neuen Wohnanlagen und die gläsernen, eleganten Firmenzentralen, die sich hinter den Palästen und engen, verworrenen Straßen auftürmen, um globale Dollars in den bodenlosen Arbeitsmarkt Indiens zu pumpen. Dann folgte eine neue Nation, und das alte Varanasi wurde wieder zum legendären Kashi, dem Nabel der wiedergeborenen Welt, dem neuesten Fleisch-Ginza Südasiens. Es ist eine Stadt der Schizophrenien. In den überfüllten Straßen drängen sich Pilger und japanische Sextouristen. Trauernde tragen ihre Toten an den Käfigen mit jugendlichen Huren vorbei. Magere Leute aus dem Westen, mit Bindi und Bart den Einheimischen angepasst, bieten Kopfmassagen an, und Mädchen vom Land melden sich bei den Ehevermittlungen an, wo sie in den Datenbanken der Verzweifelten die Zeilen mit dem Jahreseinkommen überfliegen.