»Ys, er, wie auch immer. Ys ist heute ganz außer sich, wegen einer Einladung zu einer großen Promi-Party.«
»Yuli. Das russische Model. Auch ich habe mich bemüht eingeladen zu werden, um ihn zu interviewen. Ys.«
»Also haben Sie sich stattdessen mit Fat Lal begnügt.«
»Nein, ich interessiere mich wirklich für die Psychologie von Kaih-Schauspielern.« Najia blickt zum Neut hinüber. Ys schaut auf. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke. Kein Wiedererkennen, keine Kommunikation. Ys widmet sich wieder sys Arbeit. Sys Hände formen Ziffernskulpturen.
»Was Fat Lal nicht weiß, ist, dass die Figuren und die Handlung Grundpakete sind«, fährt Satnam fort und führt Najia zwischen den leuchtenden Workstations hindurch. »Wir verkaufen die Franchise-Lizenzen, und verschiedene nationale Sender setzen sie mit ihren eigenen Kaih-Schauspielern um. Ved Prekash wird in Mumbai und Kerala von anderen Schauspielern dargestellt, und da unten sind sie genauso mega wie Fat Lal hier bei uns.«
»Alles ist nur eine Version«, sagt Najia und versucht den anmutigen Tanz der langen Hände des Neut zu entziffern.
Draußen im Korridor versucht Satnam zu plaudern. »Und Sie sind wirklich aus Kabul?«
»Ich habe das Land mit vier Jahren verlassen.«
»Das ist etwas, worüber ich nicht viel weiß. Ich bin mir sicher, dass es ziemlich ...«
Najia bleibt plötzlich im Korridor stehen und dreht sich zu Satnam um. Sie ist einen halben Kopf kleiner als er, doch er tritt einen Schritt zurück. Sie greift nach seiner Hand und kritzelt eine UCC auf seine Fingerknöchel.
»Da, meine Nummer. Rufen Sie an, vielleicht geh ich ran. Vielleicht schlage ich vor, dass wir uns irgendwo treffen, aber wenn wir das tun, entscheide ich, wo es sein wird. Okay? Und nun vielen Dank für die Tour, und ich glaube, ich finde allein nach draußen.«
Er ist dort und dann, wo und wann er sich mit ihr verabredet hat, als sie mit dem Phatphat den Bordstein ansteuert. Er hat nichts angezogen, an dem sein Herz hängt, wie Najia verlangt hat, aber er trägt immer noch den Trishul um den Hals. In letzter Zeit hat sie diesen Schmuck sehr häufig auf den Straßen an Männern gesehen. Satnam nimmt auf dem Sitz neben ihr Platz, und die kleine Autorikscha schaukelt auf den selbstgebastelten Stoßdämpfern.
»Ich bestimme, wohin es geht, klar?«, sagt sie. Der Fahrer fädelt sich wieder in den Verkehrsstrom ein.
»Fahrt ins Blaue, alles klar, kein Problem«, sagt er. »Und, haben Sie Ihren Artikel geschrieben?«
»Geschrieben, fertig, abgeschickt«, sagt Najia. Sie hat ihn an diesem Nachmittag runtergerissen, auf der Terrasse des Imperial International, der Backpacker-Herberge im Quartier, wo sie sich ein Zimmer genommen hat. Sie wird ausziehen, wenn das Geld vom Magazin gekommen ist. Die Australier gehen ihr auf den Geist, weil sie sich über alles beklagen.
Die Sache ist die, dass Najia Askarzadah einen festen Freund hat. Er heißt Bernard. Er ist — wie sie auch — einer der »Imperialisten« und im Sabbatjahr, nur dass aus den zwölf Monaten Auszeit irgendwann zwanzig, vierzig, sechzig wurden. Er ist Franzose, arbeitsscheu und übermäßig von seiner Genialität überzeugt, und er hat grässliche Manieren. Najia vermutet, dass er nur in der Herberge wohnt, um an junge Mädchen wie sie heranzukommen. Allerdings praktiziert er Tantra-Sex und kann seinen Schwanz eine Stunde lang in einer Frau steif halten, während er singt. Bislang ging es beim Tantra mit Bernard darum, dass sie auf seinem Schoß hockt, zwanzig, dreißig, vierzig Minuten lang, und dabei an einem Lederriemen zieht, der um seinen Schwanz gebunden ist, damit er hart hart hart bleibt, bis er die Augen verdreht und sagt, dass sein Kundalini aufsteigt, was bedeutet, dass die Drogen endlich Wirkung zeigen. Das entspricht nicht Najias Vorstellung von Tantra. Er entspricht nicht Najias Vorstellung von einem Liebhaber. Satnam genauso wenig, und zwar größtenteils aus denselben Gründen. Aber es ist eine Idee, ein Spiel, ein Warum nicht? Najia Askarzadah hat sich jenen Teil ihres zweiundzwanzigjährigen Lebens, den sie selbstverantwortlich führen konnte, vom Warum-nicht?-Prinzip leiten lassen. Ein Warum nicht? hat sie nach Bharat gebracht, gegen den Rat ihrer Lehrer, Freunde und Eltern.
New Varanasi geht in einer diskontinuierlichen Aneinanderreihung in Alt-Kashi über. Straßen beginnen im einen Jahrtausend und enden in einem anderen. Schwindelerregende Firmentürme ragen über einem Chaos aus Gassen und Holzhäusern auf, die in vier Jahrhunderten unverändert geblieben sind. Metroviadukte und Hochstraßen zwängen sich an Sandstein-Lingas zerfallender Tempel vorbei. Der widerliche Gestank verrottender Blütenblätter durchdringt sogar die permanenten Ausdünstungen der Alkoholmotoren, und alles vermischt sich zu einem urbanen Parfüm, mit dem sich die Stadt ihre kloakalen Körperöffnungen betupft. Bharat Rail beschäftigt Leute, die mit Reisigbesen die Blütenblätter von den Gleisen fegen. Kashi bringt sie milliardenfach hervor, und die stählernen Räder kommen damit nicht zurecht. Der Phatphat biegt in eine dunkle Gasse mit Textilgeschäften. Bleiche Plastikpuppen, arm- und beinlos, aber nichtsdestotrotz lächelnd, baumeln an hohen Gestellen.
»Darf ich fragen, wohin Sie mich bringen?«, sagt Satnam.
»Sie werden es früh genug erfahren.« In Wirklichkeit ist Najia Askarzadah noch nie da gewesen, aber seit sie gehört hat, dass sich die Australier damit brüsteten, wie mutig sie waren, sich dorthin zu wagen, ohne dass es sie angewidert hätte, ganz und gar nicht, hat sie nach einem Vorwand gesucht, diesen hintersten Hinterhofclub aufzusuchen. Sie hat keine Ahnung, wo sie sind, aber sie vermutet, dass der Fahrer auf dem richtigen Weg ist, als die hängenden Schaufensterpuppen offenen Ladenfronten mit Huren weichen. Die meisten haben die westliche Standarduniform aus Lycra und überbetonter Fußbekleidung übernommen, doch ein paar sind der Tradition treu geblieben und präsentieren sich in Stahlkäfigen.
»Hier«, sagt der Phatphat-Fahrer. Die kleine Plastikblase in Wespenfarben schaukelt auf den Stoßdämpfern.
Kampf! Kampf!, verkünden abwechselnd zwei Neonschriftzüge über der winzigen Tür zwischen dem Geschäft für Hindu-Ikonen und den Huren, die am Chai-Stand Limca trinken. Ein Kassierer sitzt in einer Blechkammer neben der Tür. Er sieht aus wie dreizehn oder vierzehn, und er hat unter seiner Nike-Mütze bereits alles gesehen. Hinter ihm führen Treppenstufen hinauf in grelles Neonlicht.
»Eintausend Rupien«, sagt er, die Hand ausgestreckt. »Oder fünf Dollar.«
Najia bezahlt inländisch.
»Das ist nicht unbedingt das, was ich mir für ein erstes Date vorgestellt hatte«, sagt Satnam.
»Date?«, sagt Najia, während sie ihn die Treppe hinaufführt, die aufsteigt, abbiegt, absteigt, wieder aufsteigt und schließlich die Galerie über der Arena erreicht.
Der große Raum war früher ein Lagerhaus. Kränklich grüne Farbe, Industrielampen mit freiliegenden Kabeln und Dachfenster mit Jalousien erzählen von der Vergangenheit des Gebäudes. Jetzt ist es eine Kampfarena. Um ein fünf Meter durchmessendes Sechseck aus Sand sind Reihen von Holzbänken angeordnet, die wie in einem Vortragssaal steil ansteigen. Alles ist neu eingerichtet worden, aus Bauholz, das von der unterfinanzierten Varanasi Area Rapid Transit gestohlen wurde. Die Verkaufsstände sind mit den Platten von Verpackungskisten getäfelt. Als Najia die Hand vom Geländer nimmt, ist sie klebrig vom Harz.
Das Lagerhaus wogt, von den Wettständen und Kämpferbuden unten am Ring bis zu den hintersten Reihen der Galerie, wo Männer in karierten Arbeitshemden und Dhotis auf den Bänken stehen, um einen besseren Blick zu haben. Das Publikum ist fast ausschließlich männlich. Die wenigen Frauen sind angezogen, um zu gefallen.