Schatten bewegen sich flackernd zwischen den Bäumen, als ein Schwarm parasitischer Beckhams von dem toten Tranter auffliegt, in den sie ihre Eier injiziert haben. Ein Ystavat stößt aus dem hohen Gleitflug nieder, jagt schwankend heran und fängt eine zu langsame Sauro-Fledermaus mit dem Hautnetz zwischen seinen Hinterbeinen. Eine Drehung, ein Hieb mit dem scharfen Schnabel, und der Jäger steigt wieder empor. Lisa Durnau rennt unverletzbar, unantastbar weiter. Kein Gott ist in seiner eigenen Welt sterblich, und während der vergangenen drei Jahre war sie die Regisseurin, die Bewahrerin und Schlichterin von Alterre, der Parallel-Erde, die ihre Evolution in beschleunigtem Zeitablauf auf elfeinhalb Millionen Computern der realen Welt vollzieht.
Beckhams. Tranters. Trudeaus. Lisa Durnau liebt die Ironie der Taxonomie von Alterre. Es ist das Prinzip der Astronomie, das auf die alternative Biologie übertragen wurde. Wenn ein Name sich irgendwo auf der Festplatte versteckt, benutzt man ihn einfach. Mcconkeys und Mastroiannis und Ogunwes und Hayakawas und Novaks. Hammadis und Cuestras und Björks.
Alles sehr lullig.
Sie hat jetzt ihren Rhythmus gefunden. Sie könnte ewig so weitermachen. Manche Leute hören Musik, wenn sie laufen. Andere chatten oder lesen ihre Mails oder die Nachrichten. Manche lassen sich von ihrer persönlichen Kaih über ihren Tag informieren. Lisa Durnau überprüft, was es Neues gibt unter den zehntausend Biomen auf den elfeinhalb Millionen Computern, die am größten evolutionären Experiment beteiligt sind. Ihre übliche Route führt einmal im Kreis um den Campus der University of Kansas herum, und ihr wundersames, geheimnisvolles Bestiarium überlagert den Verkehr von Lawrence. Es gibt immer wieder etwas Überraschendes und Entzückendes, irgendein neuer Name aus dem Telefonverzeichnis, der an einem phantastischen Geschöpf hängt, das sich aus dem Siliziumdschungel hervorgekämpft hat. Als sich durch einen reinen Evolutionssprung auf einem Biom-158-Hauptrechner in Guadalajara aus den Insekten die ersten Arthrotekten bildeten, erlebte sie eine befriedigende Erregung, wie wenn eine Handlung eine plötzliche Wendung nimmt, mit der man nicht im Geringsten gerechnet hatte. Niemand hätte die Lopeze vorhersagen können, aber sie waren die ganze Zeit latent in den Regeln verborgen gewesen. Dann entwickelten sich vor zwei Tagen die parasitogenen Beckhams aus einer Grundschule in Lancashire, und wieder war sie völlig verblüfft gewesen. Man konnte es nie vorausahnen.
Dann hatte man sie in den Weltraum geschossen. Auch das hatte sie nicht vorausgeahnt.
Vor zwei Tagen lief sie ihre Runde über den Campus, an den honigfarbenen Steingebäuden der Institute vorbei, und Alterre überlagerte den Kansas-Sommer. Am Studentenwohnheim kehrte sie um, damit sie sich noch duschen konnte, bevor sie ins Büro ging. Wo eine Frau im Anzug auf sie wartete, als Lisa hereinkam und sich mit zusammengedrillten Papiertaschentüchern das Wasser aus den Ohren drehte. Sie zeigte ihr Ausweise und Vollmachten für Aufgaben, von denen Lisa gar nicht gewusst hatte, dass ihr Land so etwas jemals nötig hätte. Drei Stunden später befand sich Lisa Durnau, die Leiterin des Alterre Simulated Evolution Project, an Bord eines staatlichen Überschallflugzeugs in fünfundsiebzigtausend Fuß Höhe über Arkansas.
Die Agentin hatte ihr gesagt, es gälte eine strikte Gewichtsbegrenzung für ihr Gepäck, aber Lisa hatte trotzdem ihre Laufsachen eingepackt. Das Zeug fühlte sich an wie ein guter Freund. In Kennedy lief sie damit auf den Straßen des Space Center, um abzuschalten, ihre Umgebung zu erkunden und eine Vorstellung davon zu bekommen, wo sie war und was ihre Regierung mit ihr machte. Während die Sonne hinter den Lagunen unterging, lief sie an den wie Wachposten aufgereihten Raketen, alten Boostern und Startgeräten vorbei. Glorreiche, gefährliche Maschinen, jetzt wie Spieße in die Erde gerammt, nachdem sie nutzlos geworden waren, die Schatten so lang wie Kontinente.
Achtundvierzig Stunden später läuft Lisa Durnau Orbits im Zentrifugenrad der ISS, das über dem Süden von Columbia rotiert. In ihrem Alterre-Blickfeld erkennt sie, wie sich in der Ferne eine Krijcek-Burg über das Dach der Trudeau-Bäume erhebt. Die Krijceks sind evolutionäre Emporkömmlinge aus dem Biom 163 an der Südostküste von Afrika — fingergroße Dinos, die eine Schwarmkultur entwickelt haben, mitsamt unfruchtbaren Arbeitern, Drohnen, eierlegenden Königinnen, einer komplexen Gesellschaftsordnung, die auf Hautfarbe basiert, und einer herkulischen Architektur. Eine neue Kolonie arbeitet sich von einem kleinen unterirdischen Bunker immer weiter nach außen vor und konvertiert alles Organische und Anorganische zu einem Brei, der mit geschickten winzigen Händen zu Pfeilern, Türmen, Streben und Eiergewölben geformt wird. Manchmal wünscht sich Lisa Durnau, sie könnte Lulls Benennungsregel außer Kraft setzen. »Krijcek« hat einen netten todbringenden Klang, aber sie hätte die Tiere gern »Gormenghasts« genannt.
Ein Signalton in ihrem Hörzentrum teilt ihr mit, dass ihre Pulsfrequenz die erforderliche Anzahl für die entsprechende Zeit erreicht hat. Sie hat sich selbst eingeholt. Alterres Nicht-Realität hat sie geerdet. Sie bleibt stehen, beginnt mit ihrer Abkühlungsroutine und klinkt sich aus Alterre aus. Die Zentrifuge der ISS ist ein hundert Meter durchmessender Ring, der sich dreht, um ein Viertel der Erdgravitation zu erzeugen. Vor und hinter ihr krümmt er sich steil nach oben, und sie befindet sich für immer am Boden der künstlichen Schwerkraftsenke. Gestelle mit Pflanzen verleihen dem Ganzen einen grünen Anstrich, aber nichts kann über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nur Aluminium, Carbonit, Plastik und nichts dahinter ist. Die NASA baut ihre Raumschiffe ohne Fenster. Bislang bestand der Weltraum für Lisa Durnau lediglich darin, von einer verschlossenen Kammer in die nächste zu kriechen.
Lisa streckt und beugt sich. Die niedrige Schwerkraft belastet ganz andere Muskeln. Sie zieht ihre Laufsohlen aus und drückt die Zehen gegen die Metallwand. Zusätzlich zum intensiven Trainingsprogramm der NASA nimmt sie Kalziumtabletten. Lisa Durnau hat das Alter einer Frau erreicht, die anfängt, sich Gedanken über ihre Knochen zu machen. ISS-Neulinge haben aufgedunsene Gesichter und obere Gliedmaßen, in die sich die Körperflüssigkeiten umverteilt haben. Die Fortgeschrittenen sind leicht und gestreckt, wie Katzen, und die Langzeitgäste verdauen ihre eigenen Knochen. Sie verbringen die meiste Zeit oben im alten Kern, von dem aus die ISS während ihres halben Jahrhunderts im Weltraum chaotisch gewachsen ist. Nur wenige kommen herunter in die schmutzige Schwerkraft, ob nun zentrifugal oder sonst wie. Es heißt, dass sie es gar nicht mehr können. Lisa Durnau wischt sich mit einem feuchten Erfrischungstuch ab, greift nach einer Sprosse in der Wand und hangelt sich die Speiche hinauf zum alten Kern. Sie spürt, wie sie exponenziell an Gewicht verliert. Sie kann sich von einer Sprosse abstoßen und zwei, fünf, zehn Meter weit hinauffliegen. Lisa hat einen Termin mit ihrer Agentin in der Nabe. Ein Langzeitastronaut schießt auf sie zu, führt im Flug einen geschickten Salto aus und richtet die Füße nach unten. Er nickt und segelt an Lisa vorbei. Im Vergleich zu seiner Beweglichkeit wirkt sie wie ein Walross, aber das Nicken macht ihr Mut. Es ist der wärmste Willkommensgruß, den die ISS zu bieten hat. Eine Gruppe von fünfzig Menschen ist klein genug für Vornamen, aber groß genug für Politik. Also genauso wie im Institut. Lisa Durnau liebt die Körperlichkeit des Weltraums, aber sie wünscht sich, das Budget hätte für Fenster ausgereicht.
Schock Nummer eins kam am ersten Kennedy-Morgen, als sie auf ihrer Veranda mit Ozeanblick saß und das Zimmermädchen ihr Kaffee einschenkte. Das war der Moment, als ihr bewusst wurde, dass ihr eigener Staat dafür sorgte, dass die Evolutionsbiologin Dr. Lisa Durnau von der Bildfläche verschwand. Es hatte sie nicht überrascht, als die Frau im Anzug ihr erklärte, dass sie in den Weltraum geschickt werden sollte. Das Außenministerium brachte keine Leute im Überschallshuttle nach Kennedy, damit sie dort das Vogelleben studierten. Als man ihren Palmer konfiszierte und ihr ein Modell gab, mit dem sie nicht telefonieren konnte, war das unerfreulich, aber nicht schockierend gewesen. Erstaunen, aber kein Schock, dass das Hotel für sie geräumt worden war. Die Sporthalle, der Pool, die Wäscherei. Alles ganz allein für sie. Lisa hatte gute presbyterianische Schuldgefühle, den Zimmerservice anzurufen, bis die Frau aus Nicaragua ihr sagte, dass sie froh war, etwas zu tun zu haben. Beziehungsweise behauptete das Zimmermädchen, aus Nicaragua zu stammen. Sie goss den Kaffee ein, und in diesem Moment der schwindelerregenden Paranoia kam der zweite Schock: Lull war ebenfalls verschwunden. Bisher hatte Lisa gedacht, dass es nur eine Reaktion auf seine sich auflösende Ehe gewesen war.