Bei ihrem nächsten Treffen sprach Lisa Durnau die Frau im Anzug darauf an. Ihr Name war Suarez-Martin, auf spanische Weise ausgesprochen.
»Ich muss es wissen«, sagte Lisa Durnau und trat von einem Fuß auf den anderen, eine unbewusste Wiederholung ihrer Aufwärmroutine. »Ist so etwas auch mit Thomas Lull geschehen?«
Die Regierungsagentin Suarez-Martin benutzte das Business Center als ihr Büro. Sie saß mit dem Rücken zum Panoramaausblick auf Raketen und Pelikane.
»Das weiß ich nicht. Sein Verschwinden hat nichts mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Lisa Durnau musste die Antwort ein paarmal gründlich durchkauen.
»Also gut. Aber warum ich? Worum geht es hier?«
»Den ersten Teil kann ich beantworten.«
»Dann schießen Sie los.«
»Wir haben Sie geholt, weil wir ihn nicht kriegen können.«
»Und der zweite Teil?«
»Auch darauf bekommen Sie eine Antwort, aber nicht hier.« Sie schob eine Plastiktüte über den Schreibtisch zu Lisa. »Das werden Sie brauchen.«
Die Tüte war mit NASA-Logos bedruckt und enthielt einen Standard-Fluganzug in Einheitsgröße und in hochsichtbarem Gelb.
Als sie Suarez-Martin das nächste Mal sah, trug die Agentin nicht mehr ihren Anzug. Sie lag angeschnallt auf der Beschleunigungsliege rechts von Lisa Durnau, und an den Handgelenken und der Kehle lugte etwas NASA-Gelb unter ihrer Fliegerausrüstung hervor. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Lippen sprachen stumme Gebete, aber Lisa hatte eher den Eindruck, dass es nicht die Angst vor etwas Neuem war, sondern das Ritual eines vertrauten Schreckens. Flughafen-Rosenkränze.
Der Pilot lag auf der linken Liege. Er war mit Kommunikation und Flugvorbereitungschecks beschäftigt und behandelte Lisa wie irgendein Frachtstück. Sie rückte sich auf der Liege zurecht und spürte, wie das Gel floss und sich ihren Körperkonturen anpasste, eine verstörend intime Empfindung. Unter ihr in der Startgrube wurde ein Dreißig-Terawatt-Laser geladen, der seinen Strahl auf einen Parabolspiegel unter ihrem Hintern richtete. In Kürze werde ich ins All geschossen, am Ende eines Lichtstrahls, der heißer als die Sonne ist, dachte sie und staunte über die Gelassenheit, mit der sie sich diese wahnsinnige Vorstellung durch den Kopf gehen ließ. Vielleicht war ihre Ungläubigkeit eine Selbstverteidigungsstrategie. Vielleicht hatte das nicaraguanische Zimmermädchen ihr etwas in den Kaffee getan. Während Lisa Durnau noch darüber nachdachte, war der Countdown bei null angelangt. Ein Computer im Kennedy-Kontrollzentrum feuerte den großen Laser ab. Die Luft entzündete sich unter Lisa und schleuderte den Lightbody der NASA mit drei G in den Orbit. Nach zwei Minuten Flug kam ihr ein so lächerlicher, so absurder Gedanke, dass sie kichern musste. Die Zuckungen ihres Lachens breiteten sich im Gelbett aus. Hallo Ma! Bin ganz oben! In der exklusivsten Travel-Lounge des Planeten, im Five-Hundred-Mile-High-Club! Und das in einem Gebilde, das aussieht wie eine Designer-Orangenpresse.
In diesem Moment schlich sich der dritte Schock heran und verpasste ihr einen betäubenden Schlag. Es war die Erkenntnis, wie wenige Menschen sie vermissen würden.
Das Namensschild auf dem gelben Fluganzug ist mit Daley Suarez-Martin beschriftet. Die Agentin gehört zu den Leuten, die sich überall ihr Büro einrichten, selbst in einem Kämmerchen voller in Folie verpackter Astronautennahrung. Palmer, Wasserflasche, TV-Patch und Familienfotos sind mit Klettband im Halbkreis an der Wand angebracht, drei Generationen von Suarez-Martins auf der Veranda eines großen Hauses mit Palmen in Terrakotta-Töpfen. Der TV-Patch ist auf Timer gestellt und verrät Lisa Durnau, dass es 01.15 Uhr GMT ist. Sie subtrahiert. Normalerweise wäre sie jetzt in der Tacorofioco Superica mit der Mittwochsmädchengang und bei ihrer dritten Margarita angelangt.
»Wie kommen Sie zurecht?«, fragt Daley Suarez-Martin.
»Äh, eigentlich ganz gut. Wirklich.« Lisa hat immer noch leichte Hinterkopfschmerzen, wie man sie häufig nach der ersten Benutzung eines Leichthoek hat. Sie vermutet, dass es an der Asche der Drogen gegen das Starttrauma liegt, die sie noch nicht im Hamsterrad abgebaut hat. Und in der Nullschwerkraft fühlt sie sich schrecklich entblößt. Sie weiß nicht, was sie mit ihren Händen anfangen soll. Ihre Brüste fühlen sich wie Kanonen an.
»Wir werden Sie nicht allzu lange festhalten, ehrlich«, sagt Daley Suarez-Martin. Im Orbit lächelt sie mehr als in Kennedy oder in Lisa Durnaus Büro in Lawrence. Die Menge der Autorität, die man in etwas ausstrahlen kann, das wie ein olympischer Rodelsportleranzug aussieht, ist begrenzt. »Als Erstes eine Entschuldigung. Wir haben Ihnen nicht ganz die Wahrheit gesagt.«
»Sie haben mir genau genommen gar nichts gesagt«, erwidert Lisa Durnau. »Ich vermute, dass es etwas mit dem Tierra-Projekt zu tun hat, und ich empfinde es als große Ehre, an dieser Mission beteiligt zu sein, aber eigentlich arbeite ich in einem ganz anderen Universum.«
»Das war unsere erste taktische Irreführung«, sagt Daley Suarez-Martin und saugt die Unterlippe ein. »Es gibt gar keine Tierra-Mission.«
Lisa Durnau stellt fest, dass ihr Mund offen steht.
»Aber die ganze Epsilon-Indi-Geschichte ...«
»Die ist durchaus real. Es gibt tatsächlich eine Tierra. Aber wir fliegen nicht hin.«
»Moment, Moment. Ich habe das Lichtsegel gesehen. Im Fernsehen. Verdammt, ich habe es sogar mit eigenen Augen gesehen, als Sie es bei diesem Testflug zum L-fünf-Punkt und zurück geschickt haben. Freunde von mir haben ein Teleskop. Wir hatten eine Grillparty. Wir haben es auf einem Monitor gesehen.«
»Daran zweifle ich nicht. Das Lichtsegel ist real, und wir haben es tatsächlich zum Lagrange-fünf-Punkt geschickt. Nur dass es kein Testflug war. Es war die Mission.«
Im selben Jahr, als Lisa Durnau es ins Fußballteam der Fremont High geschafft und festgestellt hatte, dass Rock Boyz, Poolpartys und Sex keine gute Kombination waren, hatte die NASA Tierra entdeckt. Extrasolare Planeten waren schneller aus dem schwarzen Nichts aufgetaucht, als die Astronomen in ihren mythologischen Nachschlagewerken blättern konnten, um passende Namen herauszusuchen. Doch als das Darwin Observatory seine Rosette aus sieben Teleskopen noch einmal für einen genaueren Blick auf Epsilon Indi gerichtet hatte, das nur zehn Lichtjahre entfernt war, fand man einen blassblauen Klecks, der sich an die Wärme der Sonne kuschelte. Eine Wasserwelt. Eine Erdwelt. Spektroskope zerlegten die Atmosphäre und fanden Sauerstoff, Stickstoff, CO2, Wasserdampf und komplexe Kohlenwasserstoffe, die nur das Resultat biologischer Aktivität sein konnten. Da draußen lebte etwas, nahe der Sonne in der schmalen bewohnbaren Zone von Epsilon Indi. Vielleicht nur Ungeziefer. Vielleicht nur Leute, die mit Teleskopen unseren blauen Klecks neben unserer Sonne beobachteten. Das Entdeckerteam taufte den Planeten Tierra. Ein Texaner reichte sofort einen Anspruch auf den Planeten ein, mitsamt allem, was darauf lebte. Es war diese Geschichte, die den Promi-Klatsch und das Verbrechen des Monats verdrängte und Tierra zum Tratschthema an der Supermarktkasse machte. Eine andere Erde? Wie ist da das Wetter? Wie kann dem Kerl ein Planet gehören? Er muss nur einen Claim einreichen, mehr nicht. Das wäre so, als wäre die Hälfte deiner DNS das Eigentum irgendeines Biotech-Konzerns. Jedes Mal, wenn du Sex hast, verletzt du das Copyright.