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»Aber sie hat sich auf die Suche nach dir gemacht«, sagt Lisa Durnau.

»Ich kann ihr keine Antworten geben«, sagt Thomas Lull. »Warum hast du Antworten? Du wirst geboren, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, du gehst durchs Leben, ohne irgendeinen Scheiß zu wissen, und dann stirbst du, ohne jemals irgeneinen Scheiß zu wissen. Das ist das ganze Geheimnis. Ich bin kein Guru, von niemandem, nicht für dich, nicht für die NASA, nicht für irgendeine Kaih. Weißt du was? Bei all den Artikeln und Fernsehauftritten und Konferenzen bin ich nur spontanen Eingebungen gefolgt. Mehr nicht. Alterre? Auch nur irgendwas, das mir eines Tages einfach so in den Kopf gekommen ist.«

Lisa Durna packt das Geländer mit beiden Händen. »Lull, Alterre ist untergegangen.«

Sie weiß nicht, was sein Gesicht ausdrückt, genauso wenig wie seine Haltung. Sie versucht eine Reaktion zu provozieren. »Alles wurde ausgelöscht, Lull. Alle elf Millionen Server sind abgestürzt. Ein vollständiges Massenaussterben.«

Thomas Lull schüttelt den Kopf. Thomas Lull runzelt die Stirn. Dann sieht Lisa einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie selbst sehr gut kennt: die Verblüffung, das Erstaunen, die Erleuchtung einer Idee.

»Was stand die ganze Zeit hinter Alterre?«, fragt er.

»Dass eine simulierte Umwelt ...«

»Irgendwann wahre Intelligenz hervorbringen könnte.« Die Worte stürzen aus ihm hervor. »Was wäre, wenn wir mehr Erfolg hatten, als wir jemals hoffen konnten? Was wäre, wenn gar keine intelligenten Wesen in Alterre entstanden sind, sondern das Ganze lebendig wurde ... ein Bewusstsein entwickelte ... Kalki ist der zehnte Avatar von Vishnu. Er steht oben an der Spitze der evolutionären Pyramide von Alterre, der Bewahrer und Erhalter allen Lebens, alle Dinge stammen von ihm ab und sind von seiner Substanz. Dann wagt er sich hinaus und findet da draußen eine andere Welt voller Leben. Sie ist kein Teil seiner Welt, sondern separat, unverbunden, völlig fremdartig. Ist sie eine Bedrohung, ist sie ein Segen, ist sie etwas absolut anderes? Er muss mehr darüber wissen. Er muss Erfahrungen sammeln.«

»Aber Alterre ist abgestürzt.«

Er kaut es auf der Unterlippe durch und wird still und düster, während er auf den großen Fluss im Regen hinausblickt. Lisa Durnau versucht, die Unmöglichkeiten zu zählen, die er verarbeiten muss. Nach einer Weile streckt er eine Hand aus. »Gib mir das Ding. Ich muss Kij finden. Wenn Vishnu fort ist, hat sie keine Verbindung zum Netz mehr. Ihr ganzes Leben war eine Illusion, und nun haben selbst die Götter sie im Stich gelassen. Was wird sie denken oder fühlen?«

Lisa zieht die Lade aus der fleischweichen Ledertasche und reicht sie Lull. Sie gibt die tiefen Glockentöne einer Tonleiter von sich. Thomas Lull hätte sie vor Überraschung beinahe fallen lassen. Lisa fängt das Gerät auf dem Weg in den Ganga und zum Moksha ab. In ihrer Wahrnehmung erscheint eine Stimme und ein Gesicht: Daley Suarez-Martin.

»Etwas ist am Tabernakel geschehen. Man hat von ihm ein weiteres Signal empfangen.« Die Lade zeigt ein viertes Gesicht, einen Mann, einen Bharati, so viel ist selbst in der schlechten Auflösung des zellularen Automaten offensichtlich. Ein dünnknochiger, verhärmter Mann. Lisa Durnau kann den Kragen einer Nehru-Anzugjacke erkennen. Sie findet, dass er einen unglaublich traurigen Gesichtsausdruck hat. Eine Ident-Zeile ist eingeblendet.

»Sie sollten Ihre Freundin möglichst schnell finden«, sagt sie. »Das ist Nandha. Er ist ein Krishna Cop.«

Im grauen Licht flieht sie aus dem Haus. Der Regen fällt auf Scindia Basti. Die bloßen Füße der Frauen, die von den Pumpen Wasser holen, haben die Gassen in übelriechende Schlammstreifen verwandelt. Die Kanalisation fließt über. Auch die Männer sind in der Dämmerung unterwegs, um zu kaufen und zu verkaufen, um sich vielleicht anheuern zu lassen, einen Graben für ein Kabel anzulegen, um vielleicht eine Tasse Chai zu trinken, um vielleicht nachzusehen, ob noch irgendetwas von der Stadt übrig ist. Sie starren das Mädchen mit der Vishnu-Tilaka an, wie sie sich an ihnen vorbeidrängt, rennend, als wäre ihr Kali auf den Fersen.

Augen in der Dunkelheit im Haus neben dem linken Fuß des Strommasts. »Wir sind arme Leute, wir haben nichts, was Sie vielleicht von uns haben wollen, bitte lassen Sie uns in Frieden.« Dann das Kratzen und Aufflammen eines Streichholzes und das Licht, das durch die Dunkelheit wanderte bis zum Docht der kleinen Diya aus Ton. Die erblühende Lichtknospe erhellte den Raum mit dem Lehmboden. Dann die ängstlichen Schreie.

Fahrzeuge brüllen sie an, Metall ragt gewaltig auf, zieht sich wieder in den Regen zurück. Donnernde Stimmen, Körper, die gegen sie drängen, scheinbar von Wolkengröße. Ein Fluss aus Bewegungen und alkoholbetriebenen Gefahren. Sie ist auf der Straße und weiß nicht, wie. Die Gewissheiten und die göttliche Führung durch die Nacht haben sich im Licht aufgelöst. Zum ersten Mal gibt es keine klare Trennung zwischen Gott und Mensch mehr. Sie ist sich nicht sicher, ob sie den Rückweg zum Hotel findet.

Helft mir.

Die Skyline wimmelt von chaotischen Moirémustern, in denen Götter verschmelzen, verwischen, zerfließen und zu seltsamen neuen Konfigurationen heranwachsen.

»Was willst du in diesem Haus?« Sie stößt einen Schrei aus und drückt die Hände auf die Ohren, als die erinnerten Stimmen wieder in ihrem Schädel sprechen. Die Gesichter der Frauen im Schein der Öllampe, eins alt, eins jünger, eins am jüngsten. Die alte Frau stößt einen Klagelaut aus, als würde etwas Langes und Empfindliches in ihr zerreißen.

»Was machst du hier? Du gehörst nicht hierher!« Eine Hand, erhoben in der Mudra gegen den bösen Blick. Die Augen der Jüngsten ängstlich und tränenfeucht aufgerissen. »Verlasse dieses Haus, hier ist kein Platz für dich. Lasst euch nicht täuschen. Seht ihr, seht ihr sie? Seht ihr, was sie getan haben? Oh, das ist ein böses Wesen, ein Djinn, ein Dämon!« Die alte Frau schaukelte vor und zurück, mit geschlossenen Augen, stöhnend. »Fort von hier! Dies ist nicht dein Heim, du bist nicht unsere Schwester!«

Ungeäußerte Bitten. Unausgesprochene Antworten. Ungestellte Fragen. Und die alte Frau, die alte Frau, ihre Mutter, die Hand vor den Augen, als würde Kij sie blenden, als würde sie mit einem Feuer brennen, in das man nicht blicken kann. Auf der Straße, unter dem Monsunregen schreit sie auf, ein langes, helles Wehklagen, das sich ihrem Herzen entreißt. Jetzt versteht sie.

Furcht: Sie ist weiß, ohne Oberfläche oder Textur oder sonst etwas, worauf man die Hand legen könnte, um sie zu bewegen oder zu bearbeiten, und sie fühlt sich wie etwas Verwesendes tief in einem Menschen an, und man möchte es zusammenrollen und bitten zu verschwinden, wie eine Regenwolke vorbeizuziehen, aber das wird sie nie tun.

Der Verlust beißt und zerrt. Wie Haken, die in jedem Teil des Körpers stecken, Teile, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie Verlust spüren können, wie Daumen und Lippen, und die Haken sind an Schnüren und Erinnerungen befestigt, so dass die leiseste Bewegung, der leiseste Hauch von Vergangenheit an diesen dünnen Fäden reißt. Rot ist die Farbe des Verlusts, und er riecht wie verbrannte Rosen.

Verlassenheit, die wie Übelkeit in der Kehle schmeckt, die jeden Moment hochkommen kann. Sie fühlt sich wie Schwindel an, als würde man am Rand einer hohen Kaimauer über einem Meer laufen, das so tief unter einem flimmert und sich bewegt, dass man gar nicht genau weiß, wo es ist. Aber sie ist braun, braun, die Verlassenheit ist ein fades stumpfes Braun.

Verzweiflung: ein universelles Hintergrundrauschen, zwischen Summen, Dröhnen und Zischen, ein erstickendes, verwaschenes, schmutziges Blassgrau. Universeller Regen. Universelle Nachgiebigkeit, in die man hineinstoßen kann, so weit die Gliedmaßen reichen, ohne etwas zu berühren. Universelle Isolation. Das ist Verzweiflung.