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Dann kamen die Bilder. Die Auflösung von Darwin war hoch genug, um Oberflächendetails auszumachen. In jeder Schule der entwickelten Welt hing eine Landkarte mit Tierras drei Kontinenten und den riesigen Ozeanen an der Wand. Dieses Bild wechselte sich als Bildschirmschoner von Lisa Durnaus KL-Projekt während ihres ersten Jahres an der UCSB mit Emin Perry ab, dem amtierenden olympischen Weltmeister über fünftausend Meter. Die NASA plante eine interstellare Raumsonde, die gemeinsam mit First Solar, der Orbitalabteilung von EnGen, gebaut werden sollte, mit Hilfe des orbitalen Maserantriebs und eines Lichtsegels. Die Flugzeit würde zweihundertfünfzig Jahre betragen. Als die geplante Entwicklungszeit immer länger wurde, zog sich Tierra in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung zurück, und Lisa Durnau fand es viel leichter und befriedigender, im Universum innerhalb ihres Computers fremde Welten zu erkunden und neuartige Lebensformen zu entdecken. Alterre war so real wie Tierra und viel preiswerter und einfacher zu erreichen.

»Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, sagt Lisa Durnau jetzt.

»Das Projekt Tierra-Sonde ist eine vorstellbare Lösung«, erwidert Suarez-Martin. Ihr Haar ist mit einer Anordnung von glitzernden Klammern zurückgesteckt. Lisas kurzer lockiger Bubikopf umschwebt sie wie ein kosmischer Nebel. »Die tatsächliche Mission bestand darin, einen Raumantrieb zu entwickeln, der leistungsfähig genug ist, um ein großes Objekt zum orbital stabilen Lagrange-fünf-Punkt zu bewegen.«

»Was für ein großes Objekt?« Lisa Durnau kann nichts von dem, was in den vergangenen fünfzig Stunden geschehen ist, mit der Erfahrung in Verbindung bringen, die sie in siebenunddreißig Jahren angesammelt hat. Man sagt ihr, dies sei der Weltraum, doch hier ist es heiß, es stinkt nach Füßen, und man sieht überhaupt nichts. Die Regierung zieht gerade den größten Taschenspielertrick der Geschichte durch, aber niemand bemerkt es, weil alle nur die hübschen Bilder betrachtet haben.

»Einen Asteroiden. Diesen Asteroiden.« Daley Suarez-Martin palmt eine Grafik auf den Bildschirm. Er hat die übliche Form einer Weltraumkartoffel. Die Auflösung ist nicht besonders gut. »Das ist Darnley 285.«

»Das muss ein ganz besonderer Asteroid sein«, sagt Lisa. »Wird er mit uns den Chicxulub machen?«

Die Agentin wirkt zufrieden. Sie ruft eine neue Grafik auf, farbige Ellipsen, die sich kreuzen.

»Darnley 285 ist ein Erdbahnkreuzer, der 2027 vom NEAT-Himmelsüberwachungsprogramm entdeckt wurde. Bitte schauen Sie sich diese Animation an.« Sie tippt auf eine gelbe Ellipse, die sich der Erdbahn annähert und bis hinter den Mars reicht. »Bei der größten Annäherung an die Erde unterschreitet er knapp den Mondabstand.«

»Das ist ziemlich nahe für ein NEO«, sagt Lisa Durnau. Siehst du, auch ich kann so sprechen!

»Darnley 285 braucht eintausendfünfundachtzig Tage für einen Orbit. Beim nächsten Mal kommt er so dicht heran, dass es ein statistisches Risiko gibt.« Der animierte Punkt verfehlt die Erde um Haaresbreite.

»Also haben Sie das Lichtsegel gebaut, um ihn aus der Gefahrenzone zu schaffen«, sagt Lisa.

»Um ihn zu bewegen, aber nicht aus Sicherheitsgründen. Bitte schauen Sie genau hin. Dies ist der projizierte Orbit für das Jahr 2030. Und das war der tatsächliche Orbit.« Eine gelbe Ellipse erscheint. Sie hat exakt die gleiche Lage wie der 2027-Orbit. Die Agentin fährt fort. »Eine Interaktion mit dem Erdnahen Objekt Sheringham 12 während der nächsten Umkreisung würde Darnley 285 noch näher heranbringen, auf einhundertachtzigtausend Kilometer. Stattdessen sah es 2033 so aus ...« Die neue gepunktete Parabel wird vom tatsächlich beobachteten Kurs abgelöst: wieder genau die gleiche Umlaufbahn wie im Jahr 2027. »Eine anomale Situation ...«

»Damit wollen Sie sagen ...«

»Eine nicht identifizierte Kraft modifiziert den Orbit von Darnley 285 und sorgt dafür, dass der Asteroid immer den gleichen Abstand zur Erde beibehält«, sagt Daley Suarez-Martin.

»Großer Gott!«, flüstert Lisa Durnau, die Pastorentochter.

»2039 haben wir während der Annäherung eine Mission losgeschickt. Unter höchster Geheimhaltung. Wir haben etwas gefunden. Daraufhin wurde ein erweitertes Projekt gestartet, um es zurückzubringen. Darum ging es bei der Lichtsegel-Testmission, deswegen wurde die Sache mit der Epsilon-Indi-Geschichte verschleiert. Wir mussten den Asteroiden irgendwohin bringen, wo wir ihn uns gründlich aus der Nähe ansehen konnten.«

»Und was haben Sie gefunden?«, fragt Lisa Durnau.

Daley Suarez-Martin lächelt. »Morgen schicken wir Sie los, damit Sie es sich selber ansehen können.«

6

Lull

Halb zwölf, und der Club tobt. Flutlichter an Masten grenzen ein Oval aus Sand ein. Die Körper drängen sich im Licht wie Motten. Sie bewegen sich, sie reiben sich aneinander, die Augen ekstatisch geschlossen. Die Luft riecht nach aufgebrauchtem Tag, Unmengen Schweiß und zollfreiem Chanel. Die Mädchen tragen die Shiftkleider dieses Sommers, die Zweiteiler des letzten Sommers, den gelegentlichen klassischen V-String. Die Jungs haben allesamt freie Oberkörper und tragen mehrere Schichten Halsschmuck. Kinnfusseln sind wieder in, die Iros sind so was von ’46, Tribal Bodypainting steht kurz davor, endgültig out zu sein, aber die Skarifikation scheint im Kommen zu sein, bei den Jungs genauso wie bei den Mädchen. Thomas Lull ist froh, dass die australischen Penisriemen aus der Mode sind. In den vergangenen drei Jahren hat er auf den Partys der Ghosht Brothers gearbeitet, eine Menge Geld verdient und die schnellen Gezeitenwechsel der Jugendkultur dieses Planeten miterlebt. Aber diese Dinger, mit denen die Sache wie ein Periskop hochgeschnürt wurde ...

Thomas Lull sitzt auf dem weichen, müden grauen Sand, die Unterarme auf die angezogenen Knie gelegt. Die Brandung ist heute Nacht ungewöhnlich leise. Kaum eine Welle an der Strandlinie. Ein Vogel schreit über dem schwarzen Wasser. Die Luft ist still, dicht, müde. Kein Vorgeschmack des Monsuns. Die Fischer sagen, seit die Banglas ihr Eis an Tamil Nadu vorbeigeschleppt haben, seien die Strömungen völlig durcheinandergeraten. Hinter ihm bewegen sich Körper in absoluter Stille.

Gestalten schälen sich aus der Dunkelheit, zwei weiße Mädchen in Sarongs und Neckholder-Tops. Ihre Haarfarbe ist ein schmutziges Strandblond, und die Haut hat jene übertriebene skandinavische Bräune, die von blassen nordischen Augen noch betont wird. Sie gehen Hand in Hand, barfuß. Wie alt seid ihr, neunzehn, zwanzig?, denkt Thomas Lull. Mit eurer auf der Sonnenliege erarbeiteten Bräune und den Bikinihöschen unter den reisebügeleisengebügelten Sarongs. Dies ist euer erstes Reiseziel, nicht wahr? Ihr habt es auf irgendeiner Backpacker-Seite gefunden, gerade wild genug, um herauszufinden, ob es euch hier draußen in der rauen Welt gefällt. Ihr konntet es gar nicht abwarten, von Uppsala oder Kopenhagen aufzubrechen und all die bösen Dinge zu tun, die ihr im Herzen habt.

»Hallo«, grüßt Thomas Lull sie leise. »Falls ihr vorhabt, an der heutigen Abendunterhaltung teilzunehmen, noch ein paar Dinge vorab. Nur zu eurer eigenen Sicherheit.« Mit der lässigen Handbewegung eines Kartenspielers klappt er sein Scannerkit auf.

»Klar«, sagt das kleinere, goldenere Mädchen. Thomas Lull legt ihre Handvoll Pillen und Pflaster in den Scanner.

»Nichts dabei, das aus eurem Gehirn einen Teller Vichyssoise machen würde. Die Tagessuppe ist Transic Too, ein neues Emotikum, ihr könnt es von jedem im Bühnenbereich bekommen. Und nun, Madame ...« Er wendet sich an die Strandwikingerin mit dem Glupschaugen, die schon recht früh mit der Party begonnen hat. »Ich muss überprüfen, ob es mit irgendwas reagiert, das du bereits intus hast. Könntest du ...?« Sie kennt die Routine, leckt sich am Finger und rollt ihn auf der Sensorfläche ab. Alles wird grün. »Kein Problem. Viel Spaß auf der Party, meine Damen. Es ist übrigens ein alkoholfreies Event.«