Eins nach dem anderen gehen Lichter in den umliegenden Fenstern an.
Mr. Nandha schlägt den Kragen hoch und kämpft sich durch die Böen zum offenen, blau erleuchteten Innenraum. Sein ganzes Team ist zwischen den Sowars der Luftlandetruppen versammelt. Mukul Dev und Ram Lalli. Madhvi Prasad, sogar Morva von der Steuerfahndung. Als Mr. Nandha sich neben ihm anschnallt, schließt sich die Rampe, und die Pilotin gibt Schub auf die Triebwerke.
»Meine lieben Freunde«, sagt Mr. Nandha. »Ich bin froh, dass Sie in diesem historischen Moment bei mir sind. Eine Künstliche Intelligenz der Generation Drei. Eine Entität, die so weit über unserem fleischlichen Intellekt steht wie wir über einem Schwein. Bharat wird uns dankbar sein. Jetzt sollten wir uns entschlossen ans Werk der Exkommunikation machen.«
Der Senkrechtstarter dreht sich um die vertikale Achse, während er über Mr. Nandhas verwüstetem Dachgarten aufsteigt, höher als all die Fenster und Balkone und Solarfarmen und Wassertanks seiner Nachbarn. Dann zieht die Pilotin die Nase hoch und das Heck runter, und die kleine Maschine schwebt steil zwischen den Hochhäusern empor.
Die letzten Götter erlöschen über Varanasi, und der Himmel ist nur noch der Himmel. Die Straßen sind still, die Gebäude sind stumm, die Autos haben keine Stimmen, und die Menschen sind einfach nur Gesichter, wie geschlossene Fäuste. Es gibt keine Antworten, keine Orakel in den Bäumen und Straßenschreinen, keine Prophezeiungen ankommender Flugzeuge, aber diese Welt ohne Götter ist in ihrer Leere unglaublich reichhaltig. Sinne füllen die Lücken aus, Motoren dröhnen, die Welle aus Stimmen schwappt heran, die Farben der Saris, der Männerhemden, die Neonreklamen, die im grauen Regen blitzen, alles leuchtet in einem eigenen lebhaften Licht. Jeder Hauch von Straßenparfüm, abgestandenem Urin, heißem Fett, Alkospritabgasen, brennendem feuchtem Plastik ist eine Emotion und eine Erinnerung an ihr Leben vor den Lügen.
Damals war sie eine andere Person, wenn sie den Frauen in der Hütte glauben kann. Aber die Götter — die Maschinen, wie sie nun erkennt — sagen, dass sie jetzt eine völlig andere Persönlichkeit ist. Sie sagen nicht, sie sagten. Die Götter sind fort. Zwei verschiedene Sätze von Erinnerungen. Zwei Leben, die nicht miteinander leben können, und nun ein drittes, das irgendwie beide vorherigen inkarnieren muss. Lull. Lull wird es verstehen. Lull wird ihr sagen können, wie sie sinnvoll mit diesen Leben umgehen sollte. Sie glaubt, sich an den Rückweg zum Hotel zu erinnern.
Benommen vom Imperium der Sinne, befreit von der Tyrannei der Informationen, entlassen ins Reich der simplen Dinge lässt sich Kij von der Stadt zum Fluss ziehen.
Im morgendlichen Regen auf der Ringautobahn im Westen von Allahabad starten zweihundert Awadhi-Panzer ihre Motoren, drehen sich auf der Stelle und verlassen ihre Wagenburg-Positionen, um eine geordnete Kolonne zu bilden. Der schnellere, beweglichere Verkehr saust an der vier Kilometer langen Schlange vorbei, aber es gibt keinen Zweifel mehr an der allgemeinen Richtung, nach Südsüdwest, zur Straße nach Jabalpur. Während in den Geschäften die Rollläden hochgezogen werden und die Lohn-Wallahs eintreffen, um mit ihren Phatphats und Dienstwagen zur Arbeit zu fahren, rufen die Zeitungsjungen die Nachricht von ihren Plätzen auf dem Betonmittelstreifen: PANZER ZIEHEN AB! ALLAHABAD GERETTET! RÜCKZUG DER AWADHIS NACH KUNDA KHADAR!
Ein weiteres Exemplar der unerschöpflichen Mercedes-Flotte des Premierministeriums wartet auf den Bharatiya Vayu Sena Airbus Industries A510, während er auf seine Parkposition weit entfernt von den betriebsameren Teilen des Flughafens von Varanasi eindreht. Regenschirme schützen Premierminister Ashok Rana auf dem Weg von der Treppe bis zum Wagen. Mit dicken Reifen rast er über das nasse Flugvorfeld davon. Ein Anruf ist in der Warteschleife. N. K. Jivanjee. Schon wieder. Er sieht gar nicht so aus, wie man es vom Innenminister einer Regierung der Nationalen Rettung erwarten würde. Er hat unerwartete Neuigkeiten.
Wenn sie in dieser Menge seine Hand loslässt, ist sie verloren.
Die bewaffneten Polizisten versuchen das Flussufer zu räumen. Die Ansagen über Megafone und Lastwagenlautsprecher fordern die Menge auf, sich zu zerstreuen. Die Menschen sollen wieder nach Hause oder zu ihrer Arbeit gehen. Die Ordnung wurde wiederhergestellt, ihnen droht keine Gefahr, überhaupt keine Gefahr. Einige, die von der allgemeinen Panik mitgerissen wurden, die eigentlich gar nicht die Stadt verlassen wollten, kehren um. Einige misstrauen der Polizei oder den Nachbarn oder den widersprüchlichen Bekanntmachungen der Regierung. Einige wissen nicht, was sie tun sollen, sie laufen hierhin, dorthin, nirgendwohin. Zwischen den drei Gruppen und den Armee-Hummers, die sich durch die schmalen Galis rund um den Vishwanath-Tempel zwängen, sind die Straßen völlig verstopft.
Lisa Durnau hat die Finger fest um Thomas Lulls linke Hand geschlossen. In der rechten hält er die Lade wie eine Laterne in einer dunklen Nacht. Ein letzter Rest in ihr, der sich für Regierungen und ihre Strategien verantwortlich fühlt, macht sich Sorgen wegen der eingebauten Selbstvernichtungssequenz für den Fall, dass die Lade einsam zurückgelassen wird. Aber sie glaubt nicht, dass Lull sie lange brauchen wird. Was auch immer hier geschehen soll, wird bald ein Ende finden.
Nandha. Der Krishna Cop. Der lizensierte Terminator der ungenehmigten Kaihs. Das körnige Tabernakel-Bild hat sich in ihr Vorderhirn eingebrannt. Es hat keinen Sinn, sich zu fragen, wie ein Krishna Cop in eine Maschine gelangen konnte, die älter ist als das Sonnensystem. Das Gleiche gilt für sie und die anderen. Aber in einem Punkt ist sie sich ganz sicher: Dies ist der Ort und die Zeit, wo alle diese Bilder entstanden sind.
Thomas Lull bleibt abrupt stehen, mit enttäuschter Miene, während er die Menge mit der Lade scannt und nach einer Übereinstimmung mit dem Bild auf dem Flüssigkristallbildschirm sucht.
»Der Wasserturm!«, ruft er und zerrt Lisa Durnau mit sich. Die großen rosafarbenen Betonzylinder ragen am Ufer alle paar hundert Meter von den Ghats auf, und jeder ist durch rosa lackierte Gerüste mit den obersten Stufen verbunden. Lisa Durnau kann kein Gesicht in der Masse der Flüchtlinge und Gläubigen erkennen, die sich rund um die Basis des Wasserturms drängen. Dann kommt der Senkrechtstarter über die Ghats herangeflogen, so tief, dass sich alle Leute instinktiv ducken. Alle, wie Lisa bemerkt, bis auf eine einsame Gestalt in Grau hoch oben auf dem Laufsteg rund um den Wasserturm.
Jetzt hat er sie. Er ist über seinen Hoek mit dem Gyana-Chakshu-System verbunden, und durch die Extrapolationen und Simulationen und Vektorierungen und Vorhersagen kann er die Kaih wie ein sich bewegendes Licht sehen, das durch Menschen, Verkehr und Gebäude scheint. Aus fünf Kilometern Höhe und Entfernung beobachtet er, wie sie sich durch das Labyrinth aus Straßen und Gassen hinter dem Flussufer bewegt. Mit seinen privilegierten Einsichten kann Mr. Nandha der Pilotin Richtungsanweisungen geben. Sie fliegt mit dem Senkrechtstarter in einem weiten Bogen heran, und Mr. Nandha blickt hinunter auf die Flutwelle der Menschen, die sich in den Straßen sammeln, und sie ist ein strahlender Stern. Er und die Kaih sind die einzigen beiden materiellen Lebewesen in dieser Stadt der Geister. Oder, überlegt Mr. Nandha, ist vielleicht genau das Gegenteil zutreffend?
Er befielt der Pilotin, sie über den Fluss heranzubringen. Mr. Nandha ruft seine Avatare herbei. Sie kochen in seinem Sichtfeld hoch wie Gewitterwolken, umzingeln die fliehende Kaih von allen Seiten, ein Belagerungsring von Göttern, die Waffen und Attribute erhoben, an den Wolken kratzend, während das Wasser Gangas ihre Vahanas umwirbelt. Eine unsichtbare Welt, die nur von den wahren Gläubigen gesehen werden kann ... Der fliehende Lichtklecks hält an. Mr. Nandha befielt Ganesha, dem Eröffner, die Überwachungskameras der Umgebung abzusuchen, bis die Mustererkennung die Exkommunikantin auf dem Wasserturm des Dasashvamedha Ghat ausfindig gemacht hat. Sie steht mit den Händen am Geländer und starrt über den wogenden Mob der Menschen, die sich vor dem Boot nach Patna drängeln. Steht sie dort so, weil sie sieht, was ich sehe?, fragt sich Mr. Nandha. Ist sie vor Furcht und Ehrfurcht erstarrt, als die Götter aus dem Wasser aufstiegen? Sind wir die einzigen wahren Sehenden in dieser Stadt der Illusionen?