Выбрать главу

Als sie sich in das stumme Gewimmel hineinschlängeln, betrachtet er ihre Hintern durch die dünnen Sarongs. Sie halten sich immer noch an den Händen. Wie süß, denkt Thomas Lull. Aber das Emotikum macht ihm Angst. Computeremotionen, die auf einer Kaih der Stufe 2,95 in den Sundarbans von Bharat ohne Lizenz zusammengebraut wurden, synthetisiert in einer Colaflaschenfabrik in irgendeinem Schlafzimmer und auf Heftpflaster gepappt, fünfzig Dollar pro Klaps. Es ist einfach, die User zu erkennen. Am Zucken und Grinsen, an den gebleckten Zähnen und den unheimlichen Geräuschen von Körpern, die Gefühle auszudrücken versuchen, die keine Entsprechung in der Welt menschlicher Bedürfnisse oder Erfahrungen haben. Er hat noch nie jemanden getroffen, der ihm erklären konnte, wie sich diese Gefühle anfühlen. Andererseits kennt er auch niemanden, der erklären könnte, wie sich ein natürliches Gefühl anfühlt. Wir alle sind nur programmierte Geister, die auf dem dezentralisierten Netzwerk von Brahma laufen.

Der Vogel ist immer noch da draußen und ruft.

Er schaut über die Schulter zur Strandparty. Jeder Tänzer hält sich in seiner oder ihrer privaten Sphäre auf und tanzt nach seinem oder ihrem benutzerdefinierten Beat, der durch die Hoekverbindung übertragen wird. Er belügt sich damit, dass er nur deshalb hier arbeitet, weil er das Geld gebrauchen kann, aber er hat sich schon immer von Menschenmassen angezogen gefühlt. Er braucht und fürchtet die Selbstverlorenheit der Tanzenden, die zu einem unbewussten Ganzen verschmelzen, isoliert und gleichzeitig vereint. Es ist die gleiche Liebe und Verachtung, die ihn zum zerstückelten Körper Indiens hingezogen hat, eins der hundert wiedererkennbarsten Gesichter des Planeten, verrührt mit den schrecklichen, befreienden, gesichtslosen anderthalb Milliarden des Subkontinents. Umdrehen, weggehen, verschwinden. Diese Fähigkeit, sich in einer Menge zu verlieren, hat auch ihre Kehrseite: Thomas Lull kann in jeder Herde jemanden aufspüren, der individuell, ungewöhnlich, gegensätzlich ist.

Sie bewegt sich quer durch die Strömungen der Menge, durch die Körper, gegen die Maserung der Nacht. Sie ist in Grau gekleidet. Ihre Haut ist blass, weizenfarben, indo-arisch. Ihr Haar ist kurz, jungenhaft, sehr glänzend, mit einem Hauch Rot. Ihre Augen sind groß. Gazellenaugen, wie sie die Urdu-Poeten besungen haben. Sie sieht unglaublich jung aus. Auf der Stirn trägt sie eine dreigestreifte Vishnu-Tilaka. An ihr sieht es überhaupt nicht albern aus. Sie nickt, lächelt, und die Körper umschließen sie wieder. Thomas Lull versucht eine Stelle zu finden, von wo er schauen kann, ohne gesehen zu werden. Es ist keine Liebe, es sind keine Mittvierziger-Hormone. Es ist bloße Faszination. Er muss mehr sehen, mehr über sie erfahren.

»Hallo!« Ein australisches Pärchen möchte sein Zeug überprüfen lassen. Thomas Lull checkt ihren Vorrat mit dem Scanner, während er die Party beobachtet. Grau ist die perfekte Tarnung auf einer Party. Sie ist mit einem Wechselspiel sich lautlos bewegender Gliedmaßen verschmolzen.

»Alles gut, ihr könnt unbeschwert abheben. Aber wir tolerieren hier keine Penisanzüge.«

Der Kerl runzelt die Stirn. Verschwinde von hier, lass mich meine Freizeit genießen. Da, nicht weit von den Decks. Die Bhati-Boys flirten mit ihr. Dafür hasst er sie. Komm zurück zu mir. Sie zögert, beugt sich herab, um etwas zu sagen. Für einen Moment glaubt er, sie könnte etwas vom Bangalore Bombastic kaufen. Er will nicht, dass sie das tut. Sie schüttelt den Kopf und zieht weiter. Wieder verschwindet sie zwischen den Körpern. Thomas Lull wird sich bewusst, dass er ihr folgt. Sie fügt sich wirklich gut ein, denn fast hätte er sie zwischen den Tanzenden aus den Augen verloren. Sie hat keinen Hoek. Wie macht sie das? Thomas Lull nähert sich dem Rand der Tanzfläche. Sie sieht nur so aus, als würde sie tanzen, wird ihm klar. Sie macht etwas ganz anderes, sie nimmt die kollektive Stimmung auf und bewegt sich mit dem Strom. Wer zum Teufel ist sie?

Dann hält sie mit dem Tanzen inne. Sie runzelt die Stirn, öffnet den Mund, schnappt nach Luft. Sie drückt eine Hand auf ihren schwer arbeitenden Brustkorb. Sie kann nicht mehr atmen. In den Gazellenaugen steht Angst. Sie beugt sich vor, versucht den Druck auf ihren Lungen zu entspannen. Thomas Lull kennt diese Anzeichen nur zu gut. Er ist ein alter Vertrauter dieses Angreifers. Sie steht mitten in der stummen Menge und ringt nach Atem. Niemand sieht es. Niemand versteht es. Alle bewegen sich blind und taub in ihren privaten Tanzsphären. Thomas Lull schiebt sich durch die Körper. Nicht zu ihr, sondern zu den Wikinger-Mädchen. Er hat ihren Vorrat auf der Anzeige des Scanners. Es gibt immer ein paar Leute, die sich mit Salbutamol einen schnellen, schmutzigen Kick durch eine ATP-Reduktase-Reaktion verpassen wollen.

»Ich brauche eure Keucher, schnell.« Das Goldmädchen starrt ihn an, als wäre er irgendeine unglaubliche Alien-Elfe von Antares. Für sie könnte er das wirklich sein. Sie kramt in ihrer pinkfarbenen Adidas-Tasche. »Da, diese hier.« Thomas Lull scharrt die blauen und weißen Kapletten heraus. Jetzt hechelt das graue Mädchen sehr flach, die Hände auf den Oberschenkeln. Sie hat große Angst und blickt sich hilfesuchend um. Thomas Lull kämpft sich durch die Partyleute, bricht die kleinen Gelatinekapseln auf und schüttelt sie in seiner Faust.

»Mund aufmachen«, befiehlt er und legt die Hände zusammen. »Bei drei einatmen und bis zwanzig Luft anhalten. Eins, zwei, drei.«

Thomas Lull legt die geschlossenen Hände über ihren Mund bläst durch die Daumen, um ihr das Pulver tief in die Lungen zu jagen. Sie schließt die Augen und zählt. Thomas Lull stellt fest, dass er ihre Tilaka betrachtet. So etwas hat er noch nie zuvor gesehen. Es sieht aus wie Plastik, das mit der Haut oder dem Knochen verschmolzen ist. Plötzlich muss er es berühren. Seine Finger sind nur noch wenige Millimeter entfernt, als sie die Augen öffnet. Thomas Lull reißt seine Hand zurück.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickt. »Ja. Danke.«

»Sie hätten Medikamente mitnehmen sollen. Sie hätten in große Schwierigkeiten geraten können. Diese Leute sind wie Geister. Sie hätten sterben können, und die anderen wären einfach über Sie hinweggetanzt. Kommen Sie mit.«

Er führt sie durch das Labyrinth der blinden Tänzer zum schattigen Sand. Sie setzt sich, die bloßen Füße gespreizt. Thomas Lull geht neben ihr in die Knie. Sie riecht nach Sandelholz und Weichspüler. Mit zwanzig Jahren Studentenerfahrung schätzt er sie auf neunzehn, vielleicht zwanzig ein. Komm schon, Lull! Du hast ein seltsames kleines Mädchen, das hier angeschwemmt wurde, vor einem Asthmaanfall gerettet, und schon checkst du, ob sie sich abschleppen lässt. Etwas mehr Selbstachtung bitte!

»Ich hatte große Angst«, sagt sie. »Das war sehr dumm von mir. Ich habe meine Inhalatoren dabei, sie aber im Hotel liegen lassen ... Ich hätte nie gedacht ...«

Ihr weicher Akzent mag für weniger erfahrene Ohren wie sauberes Englisch klingen, aber Thomas Lull erkennt sofort das typische Karnataka-Näseln.

»Du hattest Glück, dass Asthma Man mit seinem übermenschlichen Gehör dein Keuchen wahrgenommen hat. Komm mit. Für dich ist die Party heute Nacht vorbei, Schwester. Wo wohnst du?«

»Im Palm Imperial Guest House.« Eine gute Adresse, nicht billig, eher bei den älteren Touristen beliebt. Thomas Lull kennt die Lobby und die Bar jedes Hotels dreißig Kilometer die Coconut Coast rauf und runter. Auch einige Schlafzimmer. Die Backpacker und Studienurlauber halten sich meistens an die Strandbaracken. Auch von denen hat er einige von innen gesehen. Und ein paar Schlangen getötet.