»Kij!« Er ist nahe genug, um die drei schmuddeligen weißen Streifen an der Seite ihrer grauen Sportschuhe zu erkennen. »Kij ...« Aber seine Worte fallen in die Senke des Lärms, werden zerdrückt und ausgelöscht von härteren, lauteren Hindi-Rufen. Und sein Atem versagt, er spürt die kleine elastische Spannung am Grund jedes Atemzugs.
Scheiß auf Kafka.
»Kij!«
Er kann sie nicht mehr sehen.
Lauf, flüstert die Asche der Götter. Ihre Füße klappern über das Metallgerüst. Sie wirbelt um den Pfeiler und die scharfkantigen Stahlstufen hinunter. Ein älterer Mann schreit und flucht, als Kij mit ihm zusammenprallt.
»Tut mir leid, tut mir leid«, flüstert sie, die Hände beschwichtigend erhoben, aber er ist schon fort. Sie bleibt einen Moment auf der obersten Stufe der Treppe stehen. Der Senkrechtstarter ist rechts von ihr auf dem Sand gelandet, nicht weit vom Wasser. Eine Störung in der Menge bewegt sich wie eine Kobra auf sie zu. Hinter ihr peitschen die Antennen eines Armee-Hummer zwischen den niedrigen, tropfenden Ständen der Dasashvamedha Gali durch die Luft. Dort ist ihr der Fluchtweg versperrt. Das Tragflügelboot liegt am Steg vor einer riesigen Raute aus Menschen, die versuchen, sich an Bord zu drängen. Viele stehen schultertief im Wasser und tragen ihre Sachen auf den Köpfen. Früher hätte sie probieren können, die Kontrolle über die Maschinen des Boots zu erlangen, um über den Fluss zu entkommen. Aber diese Macht besitzt sie nicht mehr. Sie ist nur noch ein Mensch. Links von ihr fallen die Wände und Stützpfeiler von Man Singhs astronomischem Palast gestuft zum Ganges hinab. Köpfe, Hände, Stimmen, Dinge, Farben, regenfeuchte Haut, Augen. Ein blasser Kopf, der sich mit fremdländischer Körpergröße über die anderen erhebt. Langes Haar, graue Stoppeln. Blaue Augen. Blaues Hemd, albernes Hemd, knallbuntes Hemd, herrliches rettendes Hemd.
»Lull!«, ruft Kij und springt die steilen, schlüpfrigen Ghats hinunter. Sie schlittert über die Steine, steigt über Gepäckballen, stößt Kinder beiseite, springt über niedrige Mauern und Plattformen, auf denen die Brahmanen das Zehn-Pferde-Opfer Brahmas mit Feuer und Salz, Musik und Prasad feiern. »Lull!«
Mit einem einzigen Gedanken verbannt Mr. Nandha seine Götter und Dämonen. Jetzt hat er sie. Sie kann nicht in die Stadt fliehen. Der Fluss ist ihr versperrt, Mr. Nandha ist hinter ihr, so dass es nur noch vorwärts weitergeht. Die Menschen weichen vor ihm zurück wie ein Meer, dass sich in einem fremden religiösen Mythos teilt. Er kann die Kaih sehen. Sie ist grau gekleidet, in tristes Maschinengrau, so einfach auszumachen, so einfach zu identifizieren.
»Halt«, sagt Mr. Nandha ruhig. »Sie sind verhaftet. Ich bin ein Polizist. Bleiben Sie sofort stehen, und legen Sie sich flach auf den Boden.«
Zwischen ihm und der Kaih ist nur freie Fläche. Und Mr. Nandha erkennt, dass sie nicht stehen bleiben wird, dass sie versteht, was das Gesetz von ihr verlangt, und dass sie in der Weigerung eine letzte winzige Überlebenschance sieht. Mr. Nandha entsichert mit einem Klick seine Waffe. Das Indra-Avatar-System schwenkt seinen ausgestreckten Arm zum Ziel. Dann führt sein Daumen eine Bewegung aus, die er noch nie zuvor ausgeführt hat. Er schaltet die Waffe vom unteren Lauf, der Maschinen tötet, auf den oberen um. Der Mechanismus gleitet mit einem seidenweichen Klicken in Position.
Lauf. Ein so leichtes Wort, wenn man nicht gerade spürt, dass die Lungen wie Fäuste verkrampft sind und um jeden Atemzug ringen, wenn die Menge nicht jedem Satz und Schubser und Ellbogenstoß Widerstand leistet, wenn ein falscher Tritt einen unter die Füße der Menge und ins Verderben befördern könnte, wenn sich der Mann, der einen retten könnte, nicht am geometrisch fernsten Punkt des Universums befindet.
Lauf. Ein so leichtes Wort für eine Maschine.
Mr. Nandha kommt schlitternd auf dem tückischen, von Füßen polierten Stein zum Stehen, die Waffe erhoben. Er kann sein Ziel genauso wenig aus dem Blick verlieren, wie er die Sonne von ihrer Position verrücken könnte. Indra würde es nicht zulassen. Sein ausgestreckter Arm, seine Schultern schmerzen.
»Im Namen des Ministeriums, ich befehle Ihnen, stehen zu bleiben!«, brüllt er.
Sinnlos, wie immer. Er fasst die Absicht. Indra feuert. Die Menge schreit.
Die Munition ist eine Patrone mittlerer Geschwindigkeit aus flüssigem Wolfram, die sich außerhalb des Laufs von Mr. Nandhas Waffe im Flug zu einer rotierenden Scheibe aus heißem Metall ausdehnt, von der Größe eines Rings aus zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger, ein Okay-Zeichen. Sie erwischt Kij mitten im Kreuz und gräbt sich in einem Sprühnebel aus verflüssigtem Gewebe durch die Wirbelsäule, die Nieren, die Eierstöcke und den Dünndarm. Die Vorderseite ihres ärmellosen grauen Baumwolltops explodiert in einem Regen aus Blut. Der Aufprall reißt sie von den Beinen und schleudert sie mit ausgebreiteten Armen auf die Menge. Die Leute kriechen hektisch unter ihr hervor. Sie stürzt schwer auf den Marmor. Der Treffer, das Trauma hätten sie töten sollen — die untere Körperhälfte ist von der oberen getrennt —, aber sie windet sich und krallt die Finger in den Marmor, mitten in einer Lache aus warmem, süßem Blut, und gibt leise kreischende Laute von sich.
Mr. Nandha seufzt und geht zu ihr. Er schüttelt den Kopf. Ist ihm niemals etwas mehr Würde vergönnt? »Treten Sie bitte zurück«, befiehlt Mr. Nandha. Er steht über Kij, die Beine leicht gespreizt. Indra senkt die Waffe. »Dies ist eine routinemäßige Exkommunikation, aber ich rate Ihnen, jetzt den Blick abzuwenden«, erklärt er den Umstehenden. Er schaut zu seinen Zuschauern auf. Seine Augen blicken in blaue Augen, westliche Augen, in einem westlichen Gesicht mit Bart, ein Gesicht, das er wiedererkennt. Ein Gesicht, nach dem er sucht. Thomas Lull. Mr. Nandha vollführt den Ansatz einer Verbeugung. Die Waffe feuert. Die zweite Patrone trifft Kij in den Hinterkopf.
Thomas Lull brüllt unzusammenhängend. Lisa Durnau ist bei ihm, hält ihn fest, zieht ihn zurück, klammert sich mit ihrer ganzen sportlichen Kraft und ihrem Körpergewicht und ihrer gemeinsamen Geschichte an ihn. In ihren Ohren ist ein Geräusch wie vom Ende eines Universums. Die Streifen unerträglicher Hitze auf ihrem Gesicht sind Tränen. Und immer noch prasselt der Regen vom Himmel.
Mr. Nandha spürt, dass seine Krieger hinter ihm stehen. Er dreht sich zu ihnen um. Vorläufig muss er den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht zur Kenntnis nehmen. Er zeigt auf Thomas Lull und die Frau, die seine Arme festhält.
»Lassen Sie diese Personen wegen eines Vergehens gegen das Gesetz zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen festnehmen«, befiehlt er. »Entsenden Sie unverzüglich alle Einheiten zum Forschungs- und Entwicklungszentrum von Ray Power an der University of Varanasi. Und jemand soll sich um das hier kümmern.«
Er steckt die Waffe ins Holster. Mr. Nandha hofft sehr, dass er sie an diesem Tag kein weiteres Mal benutzen muss.
Schauen Sie nach links, sagt der Kapitän. Das ist der Annapurna und dahinter der Manaslu. Danach kommt der Shishapangma. Alle über achttausend Meter hoch. Wenn Sie auf der linken Seite des Flugzeugs sitzen, gebe ich Ihnen Bescheid, sobald er in Sicht kommt, denn an guten Tagen kann man von hier aus den Sagarmatha sehen. So nennen wir den Everest.
Thal hat sich auf dem breiten Sitz der Businessclass zusammengerollt, den Kopf auf das Kissen auf der Armlehne gelegt, und gibt im Schlaf leise Sopranschnarcher von sich, obwohl der Flug von Varanasi nur vierzig Minuten dauert. Najia hört die hohen Beats aus sys Kopfhörern. Für alles einen Soundtrack. HIMALAYA MIX. Sie beugt sich über ys, um aus dem Fenster zu blicken. Der kleine Cityhopper fliegt über die Ganges-Ebene und das Terai-Tiefland in Nepal, um dann einen großen Sprung über das von Flüssen zerrissene Vorgebirge zu machen, das Kathmandu wie eine Festungsmauer schützt. Dahinter erhebt sich wie eine Brandungslinie, die sich am Rand der Welt bricht, der Hochhimalaya, gewaltig und weiß und höher, als sie sich je erträumt hat. An den erhabensten Spitzen hängen Wolkenfetzen des Jetstreams. Immer höher und weiter, Gipfel um Gipfel um Gipfel, das Weiß der Gletscher und Hochebenen und das gefleckte Grau der Täler, die am fernsten Rand ihres Sichtfeldes zu Blau verschwimmen, wie ein steinerner Ozean. Najia kann in keiner Richtung eine Begrenzung sehen.