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Ihr Herz macht einen Satz. In ihrer Kehle ist etwas, das sie nicht schlucken kann. In ihren Augen sammeln sich Tränen.

Sie erinnert sich an diese Szene aus Lal Darfans Elefantenpagode, aber jene Berge hatten nicht die Macht, sie zu berühren, zu bewegen, zu inspirieren. Sie waren Faltungen aus Fraktalen und Ziffern, zwei imaginäre Landmassen, die miteinander kollidieren. Und Lal Darfan war auch N. K. Jivanjee und auch die Gen-Drei-Kaih gewesen, und die westlichsten Ausläufer dieser Berge waren die Gipfel, die sie über der Mauer um den Garten in Kabul gesehen hat. Sie weiß, dass das Bild, das die Gen-Drei ihr von ihrem Vater als Folterer zeigte, nicht echt war. Sie ist nie diesen Korridor entlanggegangen, war nie in diesem Raum bei dieser Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals existierte. Aber sie bezweifelt nicht, dass es andere gab, dass andere Frauen auf diesen Tisch geschnallt wurden und schrien, weil sie eine Gefahr für das Establishment darstellten. Und sie bezweifelt nicht, dass dieses Bild nun für immer ihrem Gedächtnis eingebrannt ist. Ich bestehe aus Gedächtnis, hatte die Kaih gesagt. Das Gedächtnis bildet unser Ich, wir erschaffen uns ein Gedächtnis. Sie erinnert sich an einen anderen Vater, eine andere Najia Askarzadah. Sie weiß nicht, wie sie mit ihnen leben kann, ihnen beiden. Und die Berge sind rau und hoch und kalt und reichen über jedes Ende hinaus, das sie sehen kann, und sie fliegt hoch und einsam auf ihrem ledernen Sitz der Businessclass mit fünfzig Zoll Beinfreiheit.

Jetzt glaubt sie zu wissen, warum die Kaih ihr die Kindheit zeigte, die sie verdrängt hatte. Es war nicht aus Grausamkeit geschehen und nicht einmal, um Zeit zu gewinnen. Es war ehrliche, anrührende Neugier gewesen, der Versuch eines Djinns, der aus Geschichten gemacht ist und etwas verstehen will, das außerhalb der Mandalas seiner Fähigkeiten und Künste liegt. Etwas Glaubwürdiges, das die Kaih nicht selber geschaffen hat. Sie wollte das Drama der Realität erleben, der Quelle, die sämtliche Geschichten speist.

Najia Askarzadah zieht die Beine auf den Sitz und drapiert sich quer über Thal. Sie legt ihren Arm auf sys und nimmt locker sys Finger in ihre. Thal reagiert mit einer Halbsilbe, aber sie weckt ys nicht aus sys Schlaf. Sys Hand ist zierlich und warm, unter ihrer Wange spürt sie sys Rippen. Ys ist so leicht, so lose zusammengefügt wie eine Katze, aber sie spürt die Zähigkeit einer Katze in den Muskeln, die ein- und ausatmen. Sie liegt da und lauscht sys Herzschlag. Sie denkt, dass sie wahrscheinlich nie einer mutigeren Person begegnet ist. Ys hat immer darum kämpfen müssen, ys selbst zu sein, und nun geht ys ins Exil, ohne ein Ziel vor Augen zu haben.

In achttausend Metern Höhe kann sie nun verstehen, dass Shaheen Badoor Khan ein ehrenwerter Mann war. Selbst als er in Bharat ihr Taxi durch den Kontrollpunkt am Vip-Gate und über die Zufahrt zur Vip-Lounge eskortierte, sah sie nur seine Falschheiten und Schwächen, einen anderen Mann, ein anderes Gewebe aus Unwahrheiten und Komplikationen. Als sie am Schalter wartete, während er leise, intensiv und schnell mit dem Airline-Angestellten sprach, rechnete sie fest damit, dass jeden Augenblick die Flughafenpolizei um die Ecke kommen würde, mit erhobenen Waffen und Kabelbindern für ihre Handgelenke. Sie alle waren Verräter. Sie alle waren ihre Väter.

Sie erinnert sich, wie das Gate-Personal starrte und flüsterte, während Shaheen Badoor Khan die letzten Formalitäten erledigte. Er hatte ihr schnell und förmlich die Hand geschüttelt, dann Thal, und war mit zügigen Schritten davongegangen.

Das Flugzeug hatte gerade die Monsunwolkendecke durchstoßen, als die Nachricht über alle Bildschirme in den Rückenlehnen hereingekommen war. N. K. Jivanjee war zurückgetreten. N. K. Jivanjee war aus Bharat geflohen. In der Regierung der Nationalen Rettung herrschte Chaos. Shaheen Badoor Khan, der in Ungnade gefallene Berater der ermordeten Premierministerin, war mit erstaunlichen Enthüllungen an die Öffentlichkeit getreten, gestützt auf beweiskräftige Dokumente, dass der ehemalige Shivaji-Parteichef eine Intrige geplant hatte, die Rana-Regierung zu vernichten und Bharat im Konflikt mit den Awadhis zu schwächen. Bharat steht unter Schock! Empörende Offenbarungen! Ein unglaublicher Skandal! Ashok Rana wird aus dem Rana Bhavan eine Erklärung abgeben! Khan als Retter der Nation! Wo ist Jivanjee?, fragt Bharat. Wo ist Jivanjee? Jivanjee, der Verräter!

Bharat wurde vom dritten politischen Erdbeben innerhalb von vierundzwanzig Stunden erschüttert. Erheblich schwerere Schäden hätte die Katastrophe angerichtet, hätte Shaheen Badoor Khan offenbart, dass die Shivaji die politische Front einer Kaih der Generation Drei war, die aus der kumulativen Intelligenz von Stadt und Land bestand. Ein versuchter Staatsstreich durch die beliebteste Soap Opera des Landes. Als sie Reiseflughöhe erreicht hatten und die Stewardess mit Getränken kam, bestellte Thal zwei doppelte Cognacs. Ys war einem Mordanschlag entkommen, hatte gegen eine Gen-Drei-Kaih gekämpft und einen mordlustigen Mob überlebt, so dass ys sich ein klein wenig Luxus verdient hatte. Währenddessen hatte Najia die neuesten Meldungen verfolgt und die Raffinesse und das Geschick erfasst, mit dem Shaheen Badoor Khan die Sache durchzog. Noch bevor das Flugzeug gestartet war, musste er einen Deal mit der Gen-Drei geschlossen haben, mit dem Ziel, die größtmögliche politische Einigkeit für Bharat zu gewährleisten. Dies war sein Sitzplatz gewesen, seine Miniflasche Hennessy, doch er war für sein Land geblieben, weil er nichts anderes mehr hatte.

Sie kann nicht wieder nach Schweden zurückgehen. Najia Askarzadah ist jetzt genauso im Exil wie Thal. Sie zittert, schmiegt sich enger an Thal. Ys schließt die Finger fest um ihre. Najia kann sys subdermale Aktivatoren an ihrem Unterarm spüren. Weder Mann noch Frau noch beides noch keins von beiden. Neut. Eine andere Art des Menschseins, mit einer Körpersprache, die sie nicht versteht. Fremdartiger für sie als jeder Mann, als jeder Vater, doch dieser Körper neben ihrem ist loyal, zäh, witzig, mutig, clever, freundlich, sinnlich, verletzlich. Süß. Sexy. Alles, was man sich von einem Seelenfreund wünschen kann. Oder einem Liebhaber. Bei diesem Gedanken zuckt sie zusammen, dann drückt sie die Wange an Thals gebeugte Schulter. Sie spürt, wie sich ihre miteinander verbundenen Schwerkraftzentren verschieben, als das Flugzeug beidreht, um mit dem Landeanflug auf Kathmandu zu beginnen. Sie hebt den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken, um vielleicht einen erhellenden Blick auf den fernen Sagarmatha zu werfen, doch sie sieht nur eine merkwürdig geformte Wolke, in der man fast die Gestalt eines riesigen Elefanten erkennen könnte, wenn so etwas möglich wäre.

Der Lauf der Geschichte wird in Jahrhunderten gemessen, aber ihre Fortschritte finden innerhalb von Stunden statt. Während sich die Panzer nach Kunda Khadar zurückziehen, wenige Stunden nach dem schockierenden Rücktritt von N. K. Jivanjee wegen Badoor Khans Behauptungen und nach dem Ausscheiden der Shivaji aus der Regierung der Nationalen Rettung, nimmt Ashok Rana das Angebot aus Delhi an, sich zu Gesprächen in Kolkata zu treffen, um den Streit um den Damm beizulegen. Doch der Tag hält noch eine weitere Überraschung für die schwer angeschlagene Nation Bharat bereit. Ganze Familien sitzen schockiert, sprachlos, benommen vor ihren Fernsehern. Mitten in der Ein-Uhr-Ausstrahlung von Stadt und Land wird die Sendung unterbrochen.