Der Marmor unter Lisa Durnaus Schenkel ist warm und glatt wie Haut. Sie kann das Wasser riechen, das lautlos ihren Fuß umspült. Die ersten Diya-Flotten stoßen mutig in den Strom vor, trotzige kleine Lichter auf dem dunkler werdenden Wasser. Die Brise umspielt kühl ihre bloßen Schultern, eine Frau namastiert, als sie vorbeigeht, auf dem Rückweg vom vergebenden Wasser. Indien erduldet, denkt sie. Und Indien ignoriert. Das sind seine Stärken, die sich umeinanderwinden wie Liebhaber in einem Tempelrelief. Armeen treffen aufeinander, Dynastien kommen und gehen, Herrscher sterben und Nationen und Universen werden geboren, und der Strom fließt weiter, und die Menschen strömen zu ihm. Vielleicht hat diese Frau den Lichtblitz nicht einmal bemerkt, mit dem sich die Kaihs in ihr eigenes Universum zurückgezogen haben. Und wenn doch, was hat sie möglicherweise gedacht? Irgendein neues Waffensystem, irgendwelche durchgebrannte Elektronik, irgendein unerklärliches Teil der komplizierten Welt ist kaputtgegangen. Es steht ihr nicht zu, etwas darüber zu wissen oder Fragen zu stellen. Sie wurde nur davon berührt, als Stadt und Land plötzlich vom Bildschirm verschwand. Oder hat sie aufgeblickt und eine ganz andere Wahrheit gesehen, das Jyotirlinga, die zeugende Kraft von Shiva, die in einer Lichtsäule aus der Erde hervorbrach, die sie nicht mehr halten konnte.
Sie betrachtet Thomas Lull, der neben ihr auf dem warmen Stein sitzt, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen. Er blickt über den Fluss auf die phantastischen Wolkengebirge. Er hat wenig gesagt, seit Rhodes von der Botschaft ihre Freilassung aus der Arrestzelle des Ministeriums unterzeichnet hat, einem umfunktionierten Konferenzraum, aus dem man alle Tische und Stühle ausgeräumt hatte, vollgestopft mit schlecht gelaunten Geschäftsleuten, resoluten Grameen-Frauen und wütenden Forschern von Ray Power. Die Luft zischte vor lauter Anrufen bei Rechtsanwälten.
Thomas Lull hatte nicht einmal geblinzelt. Der Wagen hatte sie am Haveli abgesetzt, aber dann wandte er sich vom verzierten Holztor ab und lief hinaus in das Labyrinth aus Gassen und Straßenmärkten, das zu den Ghats hinunterführt. Lisa hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten oder ihn zu fragen oder mit ihm zu reden. Sie beobachtete, wie er die Treppen hinauf- und hinunterstieg, wie er hin und her lief, um nach der Stelle zu suchen, wo die Füße das Blut in den Stein getreten hatten. Sie sah sein Gesicht, als er bei den Menschen stand, die sich dort tummelten, wo Kij gestorben war, und dachte: Ich kenne diesen Blick aus einem großen Wohnzimmer ohne Möbel in Lawrence. Und sie wusste, was sie tun musste und dass ihre Mission in jedem Fall scheitern würde. Als er schließlich in einer schwachen Geste der Fassungslosigkeit den Kopf schüttelte, war es ausdrucksstärker als jede emotionale Dramatik. Dann setzte er sich ans Wasser, und sie folgte ihm und hockte sich auf den sonnenwarmen Stein und wartete, bis er bereit war.
Die Musiker haben mit einem sanften, langsamen Herzschlag begonnen. Die Menge wird von Minute zu Minute größer. Die Erwartung, die Präsenz ist deutlich zu spüren.
»L. Durnau«, sagt Thomas Lull. Widerstrebend muss sie lächeln. »Gib mir das Ding.«
Sie reicht ihm die Lade. Er blättert durch die Seiten. Sie sieht, wie er die Aufnahmen aus dem Tabernakel abruft: Lisa, Lull, Kij, Nandha der Krishna Cop. Er lässt die Gesichter wieder in der Maschine verschwinden. Ein Mysterium, das niemals aufgeklärt werden soll. Sie weiß, dass er nicht mit ihr zurückkehren wird.
»Man glaubt, man hat etwas gelernt, man glaubt, dass man es endlich rausgekriegt hat. Es hat Zeit und Leid und Mühe und eine Menge Erfahrung gekostet, aber schließlich glaubt man, dass man eine Vorstellung hat, wie das alles funktioniert, die ganze verdammte Show. Man sollte meinen, ich wüsste es besser, ich möchte wirklich daran glauben, dass wir tatsächlich auf dem richtigen Weg sind, dass alles nicht nur Planetenschleim ist. Und das ist der Grund, warum es mich immer wieder kalt erwischt. Jedes Mal.«
»Der Fluch des Optimisten, Lull. Ständig kommen einem Menschen in die Quere.«
»Nein, keine Menschen, L. Durnau. Nein, die Menschen habe ich schon vor langer Zeit abgeschrieben. Nein, ich hatte wieder Hoffnung, als ich begriffen hatte, was die Kaihs beabsichtigten. Ich dachte, Mann, das ist die Ironie schlechthin, dass die Maschinen, die verstehen wollen, wie es ist, Mensch zu sein, letzlich viel menschlicher sind als wir. Ich hatte nie Hoffnung für uns, L. Durnau, aber ich habe gehofft, dass die Gen-Dreier vielleicht einen Sinn für Moral entwickelt haben. Nein, sie haben sie im Stich gelassen. Sobald sie erkannten, dass es nie Frieden zwischen Fleisch und Metall geben würde, haben sie sie aufgegeben. Lerne, wie es ist, ein Mensch zu sein. Sie haben alles gelernt, was sie wissen mussten, bei einem einzigen großen Verrat.«
»Sie haben sich in Sicherheit gebracht. Sie haben ihre Spezies gerettet.«
»Hast du auch nur ein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe, L. Durnau?«
Ein Kind kommt die Ghats herunter, ein kleines Mädchen im Blümchenkleid, barfüßig, unsicher auf den Treppenstufen. Ihr Gesicht zeigt absolute Konzentration. Ihr Vater hält eine Hand, die andere wedelt, um das Gleichgewicht zu wahren, und umklammert eine Girlande aus Tagetes. Der Vater führt sie zum Fluss, zeigt ihr, wohin sie werfen soll, na los, hinein damit. Das Mädchen schleudert die Gajra von sich, reißt begeistert die Arme hoch, als sie sieht, wie sie auf dem dunklen Wasser landet. Sie ist bestimmt nicht älter als zwei.
Nein, du irrst dich, Lull, möchte Lisa sagen. Es sind diese hartnäckigen kleinen Lichter, die sie niemals auslöschen können. Es sind diese Quanten der Freude und des Erstaunens und der Überraschung, die unablässig aus den universellen und konstanten Wahrheiten unserer Menschlichkeit hervorquellen. Als sie schließlich spricht, sind es die Worte: »Was glaubst du, wohin du jetzt gehen wirst?«
»Es gibt da immer noch diese Tauchschule mit meinem Namen dran, irgendwo in Richtung Lanka oder Thailand«, sagt Thomas Lull. »Es gibt da eine Nacht im Jahr, kurz nach dem ersten Vollmond im November, wenn die Korallen ihre Spermien und Eier entlassen, alle gleichzeitig. Es ist einfach wunderbar, als würde man in einem gigantischen Orgasmus schwimmen. Das würde ich gern sehen. Oder Nepal, die Berge. Ich würde gern die Berge sehen, wirklich sehen, mich für längere Zeit zwischen ihnen aufhalten. Etwas Berg-Buddhismus machen, all die Dämonen und Schrecken, das ist genau die Art von Religion, die mich anspricht. Nach Kathmandu hochfahren, raus nach Pokhara, irgendwo hoch oben, mit Blick auf den Himalaya. Würdest du deswegen Ärger mit den Agenten kriegen?«
Vater und Tochter stehen am Wasser und beobachten, wie die Gajra auf den Wellen schaukelt.
»Wie unser guter Mr. Rhodes sagte, haben die Agenten im Moment genug eigene Probleme, wenn sich eine Generation Drei in den Geheimdienstsystemen versteckt hat«, sagt Lisa Durnau. Das Kind lächelt ihr argwöhnisch zu. Was hast du, Lisa Durnau, dein ganzes Leben lang getan, das lebenswichtiger ist als das. »Sie werden sich irgendwann an mich wenden.«
»Nun gut, dann gib ihnen das hier. Ich schätze, das bin ich dir schuldig, L. Durnau.«
Thomas Lull reicht ihr die Lade. Lisa Durnau betrachtet stirnrunzelnd die Grafik.
»Was ist das?«
»Die Faltstruktur des Calabi-Yau-Raums, den die Gen-Dreier bei Ray Power geschaffen haben.«
»Das ist eine Standardmenge von Transformationen für einen Informationsraum mit geistähnlicher Raumzeitstruktur. Lull, ich habe mitgeholfen, diese Theorien zu entwickeln, falls du dich erinnerst. Sie haben mir den Weg in dein Büro geebnet.«
Und in dein Bett, denkt sie.
»Erinnerst du dich, was ich auf dem Boot gesagt habe, L. Durnau? Über Kij. Dass es genau andersherum ist?«
Lisa Durnau runzelt die Stirn, dann erfasst sie es, wie sie es von Gottes Hand auf der Toilettentür in der Paddington Station gesehen hat, und es ist so klar und rein und so wunderschön, dass es sich anfühlt wie ein Lichtspeer, der sie durchbohrt, der sie am weißen Stein aufspießt, und es fühlt sich wie der Tod und wie die höchste Ekstase an, wie etwas, das singt. Tränen treten ihr in die Augen, sie wischt sie fort, sie kann nicht aufhören, auf das einzelne wundersame leuchtende Negativzeichen zu blicken. Minus T. Der Zeitpfeil ist umgekehrt. Ein geistähnlicher Raum, in dem die Intelligenzen der Kaihs mit der Struktur des Universums verschmelzen können, um sie nach Belieben zu manipulieren. Je älter es wird, desto komplexer wird es, und unser Universum wird jünger und dümmer und einfacher. Planeten lösen sich in Staub auf, Sterne verdunsten zu Gaswolken, die sich zu kurzen Supernovae zusammenziehen, die nicht das Licht der Zerstörung, sondern die Kerzen der Schöpfung sind; der Raum kollabiert, wird immer heißer und verdichtet sich zum ursprünglichen Ylem, Kräfte und Partikel zerkochen im ursprünglichen Ylem, während die Kaihs an Macht, Weisheit und Alter gewinnen. Der Zeitpfeil fliegt in die andere Richtung.