Mit zitternden Händen ruft sie eine einfache Mathematik-Kaih auf, führt ein paar schnelle Transformationen durch. Wie sie vermutet hat, fliegt der Pfeil der Zeit nicht nur in die entgegengesetzte Richtung, sondern er fliegt außerdem schneller. Ein rasantes, wildes Universum, in dem Lebensspannen zu Momenten komprimiert sind. Die Uhr-Zeit, das Geflacker der Planck-Zeit, die die Rate bestimmt, mit der die Kaihs ihre Realität berechnen, läuft einhundertmal schneller als im Universum Null. Atemlos jagt Lisa Durnau ein paar weitere Berechnungen durch die Lade, obwohl sie weiß, obwohl sie schon vorher weiß, wie das Ergebnis aussehen wird. Universum 212255 durchläuft die Spanne von der Geburt bis zum Rekollaps zur finalen Singularität in sieben Komma sieben acht Milliarden Jahren.
»Es ist ein Boltzmon!«, ruft sie begeistert. Das Mädchen im Blümchenkleid dreht sich um und starrt sie an. Die Schlacke eines Universums, ein finales Schwarzes Loch, das sämtliche Quanteninformationen enthält, die hineingefallen sind, und das sich den Weg aus einer sterbenden Realität in eine andere stanzt. Und wartet — das Erbe der Menschheit.
»Ihr Geschenk an uns«, sagt Thomas Lull. »Alles, was sie wissen, alles, was sie erfahren haben, alles, was sie gelernt und geschaffen haben, haben sie als ihr Abschiedsgeschenk zu uns herübergeschickt. Das Tabernakel ist ein einfacher Automat, der die Informationen im Boltzmon in eine Form kodiert, die für uns verständlich ist.«
»Und uns, unsere Gesichter.«
»Wir waren ihre Götter. Wir waren ihr Brahma und Shiva, Vishnu und Kali. Wir sind ihr Schöpfungsmythos.«
Das Tageslicht ist nun fast verschwunden, und ein tiefes Indigo hat sich über den Fluss gelegt. Die Luft ist kühl, die Ränder der fernen Wolken leuchten, sie wirken riesig und unwahrscheinlich wie Träume. Die Musiker haben das Tempo gesteigert, die Gläubigen stimmen den Gesang an Mutter Ganga an. Die Brahmanen steigen durch die Menge herab. Vater und Kind sind nicht mehr da.
Sie haben uns nie vergessen, denkt Lisa Durnau. In all den Milliarden — Trillionen — subjektiven Jahren ihres Lebens und ihrer Geschichte haben sie sich an diesen Verrat am Ufer des Ganges erinnert, und sie haben uns dazu genötigt, ihn aufzuführen. Das brennende Chakra der Regeneration ist endlos. Das Tabernakel ist eine Prophezeiung und ein Orakel. Die Antwort auf alles, was wir wissen müssen, ist darin verborgen. Es geht nur noch darum, wie wir danach fragen.
»Lull ...«
Er legt einen Finger an die Lippen, nein, psst, nicht sprechen. Thomas Lull kommt steif auf die Beine. Zum ersten Mal sieht Lisa Durnau den alten Mann, der er sein wird, den einsamen Mann, der er werden möchte. Wohin er diesmal geht, kann nicht einmal die Lade sehen.
»L. Durnau.«
»Also Kathmandu. Oder Thailand.«
»Irgendwohin.«
Er reicht ihr eine Hand, und sie weiß, dass sie ihn nie wiedersehen wird, nachdem sie sie angenommen hat.
»Lull, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken ...«
»Das musst du nicht. Du hättest es selber erkannt.«
Sie nimmt seine Hand.
»Lebewohl, Thomas Lull.«
Thomas Lull neigt den Kopf zur Andeutung einer Verbeugung.«
»L. Durnau. Ich finde, Abschiede sollten kurz sein.«
Die Musiker legen noch einen Zahn zu, die Menge stößt einen gewaltigen, inkohärenten Seufzer aus und wendet sich den fünf Plattformen zu, auf denen die Priester die Puja darbringen. Flammen lodern von den Aarti-Lampen der Brahmanen auf und blenden Lisa Durnau für einen kurzen Moment. Als sich ihr Blick klärt, ist Lull fort.
Draußen auf dem Wasser wird die Tagetes-Girlande von einer Windböe, einer Strömung erfasst, die sie dreht und auf den dunklen Fluss hinausträgt.
Glossar
Aarti: Hindu-Zeremonie, bei der einer Gottheit Licht geopfert wird.
Adivasi: uralte indische Stammeskulturen, die noch unterhalb des Kastensystems stehen.
Angreez: Hindi-Wort für »Englisch«.
Apsara: himmlische Nymphe, häufig als Verzierung von Kragsteinen in Tempeln, ursprünglich Baumgeister.
Arahb: Hindi-Zahlwort, das 109 entspricht. Inder haben nützliche Bezeichnungen für sehr große Zahlen.
Ardha Mandapa: Eingangshalle, die in die Mandapa, die Säulenhalle eines Tempels führt.
Awadh: Region im Zentrum des heutigen Bundesstaats Uttar Pradesh; im Roman unabhängiger nordindischer Staat mit der Hauptstadt Delhi.
Baba: liebevolle Anrede.
Babu: Beamter oder Bürokrat.
Badmash: gemeiner, brutaler Rüpel aus Überzeugung.
Bahadur: hochmütig, wichtigtuerisch, aufgeblasen.
Bakhti: der Weg der Hingabe.
Bansuri: Nordindische Bambusflöte mit sechs oder sieben Löchern.
Baradari: Gruppenbezeichnung der Pakistanis/Paschtunen, irgendwo zwischen einem Clan, einer Gang und einer Horde.
Basti: Siedlung oder Slum, verwirrenderweise auch ein Komplex von Jain-Tempeln.
Begum: respektvolle Anrede einer verheirateten muslimischen Dame.
Behen Chowd: Schwesterficker, häufigste Beleidigung im Hindi.
Bhai: an den Namen angehängtes Suffix, das respektvolle Nähe bedeutet.
Bhakti: die liebende Hinwendung eines Hindu zu einem erwählten Gott.
Bharat: Sanskrit-Bezeichnung für ganz Indien und alternative offizielle Bezeichnung des Staats Indien; im Roman unabhängiger Staat, der aus Bihar und dem Osten von Uttar Pradesh besteht.
Bhavan: Haus, üblicherweise ein bedeutendes Haus.
Bheesty: für die Wasserversorgung zuständiger Hausdiener.
Bhindi: Okra, bohnenähnliches Gemüse.
Bibi: Hindi-Begriff für eine verheiratete Frau.
Bidi: indische Zigarette, nach vorn spitz zulaufend. Sargnägel, wie sie im Buche stehen.
Big Dada: primitiver Rüpel, buchstäblich: »großer Arm«, jugendlicher Schläger.
Bodhisattva: ein Anhänger des Buddhismus, der nach Weisheit und »Buddhaschaft« strebt; im Roman ist der Begriff »Bodhisoft« davon abgeleitet.
Bindi: Punkt auf der Stirn, als Kastenzeichen oder auch nur als Dekoration getragen. Die Tilaka ist die religiöse Entsprechung.
Brahma: einer der Hauptgötter des Hinduismus, der in der Trimurti die Schöpfung repräsentiert.
Brahmanen: die höchste der vier Hauptkasten, die Priesterkaste, so heilig, dass nicht einmal die Götter ihnen etwas anhaben können (siehe auch Varna); im Roman auch die genetisch modifizierten Kinder der Reichen.