FASHIONSTAR PROMOTIONS
im Auftrag von MODE ASIA lädt THAL ein, Nr. 27, Korridor 30, 12. Stock, Indira Ghandi Apartments (wie das White Fort nur von den Postämtern, dem Finanzamt und den Gerichtsvollziehern bezeichnet wurde), zu einem EMPFANG zu erscheinen, um YULI in Varanasi zur BHARAT FASHION WEEK willkommen zu heißen. ORT: Ardhanarishvara-Tempel, Mirza Murad District FESTAKT: zur 22. Stunde NATION: Neutalien
u. A. w. g.
Die Karte fühlte sich so warm und weich an wie Haut. Thal hatte sie Mama Bharat gezeigt, der alten Witwe, deren Wohnungstür sich auf seinem Treppenabsatz befand. Sie war eine sanfte Seele, die von ihrer Familie in einem seidenen Kerker gefangen gehalten wurde. Auf die moderne Weise: ein unabhängiges Leben im Alter. Vor drei Monaten war Thal eingezogen und zu Mama Bharats Familie geworden. Sonst wollte sowieso niemand mit ys reden. Thal akzeptierte die täglichen Besuche zum Chai und Snack und zweimal pro Woche die Putzeinsätze, und ys fragte nie nach, was für eine Art Familienmitglied ys für sie war, ob Tochter oder Sohn.
Die gealterte Frau strich mit den Fingern über die Einladung, zärtlich und leise gurrend wie eine Geliebte.
»So weich«, sagte sie. »So weich. Werden dort alle wie du sein?«
»Neuts? Hauptsächlich. Wir sind ein Thema.«
»Ah, eine große, große Ehre, das Beste der Stadt, und all die Tivi-Leute.«
Ja, hatte Thal gedacht. Aber warum ich?
Thal schreitet durch die schattige Tempel-Mandapa. Sie wird von Fackeln erleuchtet, die von vierarmigen Kali-Avataren gehalten werden, und ys spürt ein leichtes Zerren der Ehrfurcht in sys Nadi-Chakra. Dort ist ein Großer Filmregisseur, der sich mit gewissem Unbehagen unter einer bestürzend pornographischen Statue mit einer Angesehenen Neuen Jungen Autorin unterhält. Hier ist ein Internationaler Tennisstar, der einen erleichterten Eindruck macht, weil er nicht nur einen Großen Profigolfer gefunden hat, sondern außerdem einen Fußballer der All-India-Liga mit seiner strahlend schönen Frau, so dass sie hemmungslos über Zählspiele und Handicaps reden können. Und das ist Mr. Interstellar Pop Promoter Man, und er ist das neueste Produkt seiner Pop-Designabteilung mit einem Debütsong, der allein durch die Vorbestellungen zum Nummer-eins-Hit werden muss, während die Kleine im zu kurzen Rock, die ihren Cocktail etwas zu fest umklammert und ein wenig zu laut lacht, zweifellos für die PR von FASHIONSTAR PROMOTIONS arbeitet. Nicht mitgezählt die drei Wetware-Rajas, die noch keine fünfundzwanzig sind, die zwei hektischen Game-Designer und der äußerst zwielichtige Lord der Sundarbans, den Cyberdschungel-Entrepreneur der Darwinware-Hotzone, allein und höchstpersönlich, völlig entspannt und tigerglatt, wie es nur ein Mann sein kann, der über eine eigene Pandava-Legion aus Kaih-Leibwächtern verfügt. Hinzu kommen die übertrieben gekleideten und überaffektierten Gesichter, die Thal nicht kennt, die aber deutlich ihre Modemagazin-Herkunft vor sich hertragen, die Mittvierziger, die als Tivi-Redakteure für die Auftragsvergabe zuständig sind, verschwitzt und etwas zu gut miteinander bekannt, die Klatschjournalisten mit dem sehr weiten und aktiven Blickfeld und die Wohlhabenden der High Society von Varanasi, aufgebracht und schlecht gelaunt, weil sie von einer Schar von Neuts überstrahlt werden. Es sind sogar ein paar Generäle anwesend, prächtig wie Sittiche in ihren Galauniformen. Die Armee ist très très hip in diesen Zeiten des Risikospiels mit Awadh. Nicht zu vergessen der Haufen aus mürrisch dreinschauenden, scheinbar Zehnjährigen, deren Blicke wie Dolche über ihre gyrostabilisierten Cocktailgläser schießen: die Goldenen, die brahmanischen Söhne und Töchter.
Thal hat eine Checkliste von Neeta erhalten, der Assistentin sys Chefs Devgan. Die meisten aus der Metasoap-Unit empfinden Neetas perfekte geistige Leere als beklemmend, aber Thal mag sie. Ihre ungeheuchelte Banalität spült unerwartete, zen-artige Kontraste an die Oberfläche. Sie wollte wissen, welche Kleidung ys tragen wird, welches Make-up ys auflegen will, wo ys sich mit einem Drink aufwärmen und wo ys nach der Party weiterfeiern möchte. Man muss sich anstrengen, um bei der größten, wildesten, angesagtesten VIP-Nachfeier der Saison dabei sein zu können. Auf dem Weg durch den Säulengang klickt ys dreißig Große Namen von Neetas Liste.
Zwei Rakshasas bewachen den Eingang zum Allerheiligsten und zur kostenlosen Bar. Der Groove ist Adani, als Remix der Biblical Brothers. Krummsäbel fahren nieder. Die Darsteller sind aus Fleisch und Blut, aber das untere Armpaar ist robotisch. Thal bewundert das Ganzkörper-Make-up. Die Übergänge sind wirklich nahtlos. Sie scannen die Einladung. Die Schwerter heben sich. Thal tritt ins Wunderland. Jedes Neut der Stadt ist gekommen. Thal bemerkt, dass sys knöchellanger Wollfasermantel mit optischer Streuung immer noch in ist, aber seit wann sind Skibrillen, die man hoch auf der Stirn trägt, zum modischen Accessoire geworden? Thal kann es nicht ausstehen, wenn ys einen Trend verpasst. Köpfe drehen sich, als ys zur Bar schreitet, und werden dann zusammengesteckt. Ys spürt die Welle des Tratsches, die sich wie ein Kielwasser hinter ys ausbreitet: Wer ist dieses Neut, ys ist neu hier, wo hat ys sich versteckt, ein Aussteiger oder Einsteiger?
Ich missachte eure Beachtung, sagt sich Thal. Ys ist wegen der Stars hier. Ys steckt einen Platz am Ende der geschwungenen, lumineszierenden Bar ab und überblickt das Material. Vierarmige Barkeeper schütteln akrobatische Cocktails. Thal bewundert das Geschick ihrer Robotik. »Was ist das?«, fragt ys und zeigt auf den fluoreszierenden Kegel aus goldenem Eis, der auf der Spitze stehend auf der Theke balanciert.
»Non-Russian«, sagt der Barkeeper, während seine unteren Arme nach einem Glas greifen und Eis hineinschaufeln. Thal nippt vorsichtig. Wodka-Basis, etwas wie Vanille-Sirup, eine Faustvoll zerkleinertes Eis und ein Schuss deutscher Zimtschnaps, Flocken aus Goldfolie, die durch die Eiszwischenräume nach unten treiben. Das Surren der Mikrogyros lässt Thals Finger kribbeln.
Dann öffnet die Partydynamik vorübergehend einen Blickkorridor, und Thal erspäht in rein weißem Eisbärfell und golden getönter Skibrille den Star in sys ganzer Pracht: YULI.
Thal verschlägt es die Sprache. Ys ist von der Gegenwart der Prominenz paralysiert. Sämtliche medialen Anmaßungen und Raffinessen verflüchtigen sich. Schon bevor sys Ausstieg hat Thal YULI zum Idol erhoben: ein Superstar als Konstrukt, eine Manipulation wie die Darsteller von Stadt und Land. Jetzt ist ys hier, leibhaftig und bekleidet, und Thal ist vor Ehrfurcht erstarrt. Ys muss in Yulis Nähe gelangen. Ys muss ys atmen und lachen hören und sys Wärme spüren. An diesem Abend gibt es nur zwei reale Objekte im Tempel. Gäste, Neuts, Personal, Musik — all das ist unbestimmt, gehört zum Reich von Ardhanarishvara. Thal ist jetzt hinter Yuli, nahe genug, um die Hand auszustrecken, zu berühren und zu verifizieren. Der Bogen der Wangenknochen verschiebt sich. Yuli dreht sich um. Thal lächelt, ein großes dummes Grinsen. Bei den Göttern, jetzt sehe ich wie ein sabbernder Promi-Fan aus, was soll ich nur sagen? Ardhanarishvara, Gottheit des Dilemmas, hilf mir! Götter, stinke ich? Denn ich hatte nur eine halbe Flasche Wasser, um mich zu waschen ... Yulis Blick streift ys, geht durch ys hindurch, löscht ys aus und wendet sich jemandem hinter ys zu. Yuli lächelt, breitet die Arme aus.
»Liebling!«
Ys rauscht vorbei, ein warmer Schwall aus Pelz und goldener Haut und Wangenknochen wie Rasierklingen. Die Entourage folgt. Eine Hüfte rempelt Thal an, stößt ys das Glas aus der Hand. Es fällt zu Boden, wankt heftig und findet schließlich die Mitte wieder, auf der Spitze rotierend. Thal steht benommen da, steinern wie die fremdartigen Sexstatuen des Tempels.
»Oh, Sie scheinen Ihren Drink verloren zu haben.« Die Stimme, die durch die Mauer des Geschnatters bricht, ist weder männlich noch weiblich. »Das geht doch nicht an, mein Liebstes, nicht wahr? Komm mit, das ist nur ein Haufen verdammter blöder Zicken, Schwester, und wir sind nicht mehr als Wallpaper.«