Ys ist einen Kopf kleiner als Thal, dunkelhäutig, mit der Andeutung einer Mongolenfalte — in der Mischung sind auch ein paar Assam- oder Nepal-Gene. Ys hat die scheue und gleichzeitig stolze Haltung jener Völker. Ys trägt einfaches Weiß, das der Mode trotzt, und die rasierte Kopfhaut, die mit goldenem Glimmer bestäubt ist, stellt die einzige Konzession an den zeitgemäßen Geschmack dar. Wie immer bei ihresgleichen kann Thal nicht einmal ansatzweise sys Alter einschätzen.
»Tranh.«
»Thal.«
Sie knicksen und küssen sich zur Begrüßung. Sys Finger sind lang und elegant, französisch manikürt, ganz anders als Thals stummelige Keypad-Tippfinger mit den abgekauten Nägeln.
»Verdammt beschissen hier, was?«, sagt Tranh. »Trink, mein Liebstes. Hier!« Ys klopft auf den Tresen. »Genug von dieser Non-Russian-Pisse. Gebt mir Gin. Chota Peg, zweimal. Chin chin.« Nach dem übersüßten theatralischen Hauscocktail schmeckt das klare Glas mit dem Schuss Limone sehr gut, sehr rein und sehr kalt. Thal spürt, wie entlang sys Wirbelsäule kaltes Feuer direkt ins Gehirn aufsteigt.
»Verdammt köstlicher Drink«, sagt Tranh. »Damit wurde der Raj errichtet. Mit viel Chinin. Hier!« Ys wendet sich an den Bar-Avatar. »Schauspieler-Wallah! Noch mal zwei davon!«
»Eigentlich sollte ich nicht. Ich muss morgen früh arbeiten, und ich weiß noch gar nicht, wie ich überhaupt zurückkomme«, sagt Thal, aber das Neut drückt ys das kondenswasserschlüpfrige Glas in die Hand, und die Musik trifft den perfekten Beat, und ein Windhauch zieht durch die Tempelruine. Flammen und Schatten lodern, und alle blicken auf und fragen sich, ob es die erste sanfte Berührung des Monsuns ist. Er weht einen Hauch von Wahnsinn in die schreckliche Party, und anschließend fühlt sich Thal schwindlig und redselig. Ys ist voller Leben und Erstaunen, sich in einer neuen Stadt und mit einem neuen Job wiederzufinden, im Auge des gesellschaftlichen Mahlstroms mit einem kleinen, dunklen, wunderschönen Neut.
Dann zerfließt alles wie Kalligraphie im Regen. Irgendwann tanzt Thal, ohne sich zu erinnern, wie ys auf den Floor gelangt ist, und es sind noch viel mehr Leute da, die eher herumstehen als tanzen. Eigentlich tanzt überhaupt niemand, nur Thal. Ys tanzt allein, wundervoll und makellos, als hätte sich der Wind, der durch den Tempel wehte, an einer Stelle in einem Wirbel gesammelt — wie ungewohnte Chota Pegs, wie Licht, wie Nacht, wie die Versuchung, wie ein Laser, der auf Tranh gebündelt ist, um nur ys allein zu erhellen. Es sagt Ich will ich brauche ich werde, na komm, es lockt Na komm schon, es zieht Tranh an, Schritt für Schritt, doch ys lächelt nur und schüttelt den Kopf. Für so einen Scheißdreck bin ich nicht zu haben, mein Liebstes. Doch ys wird in den Kreis gezogen, durch dieses Spiel aus Shakti und Purusha, bis Thal sieht, wie Tranh erzittert, als wäre etwas aus der Nacht gekommen und in ys hineingefahren, etwas Besitzergreifendes, Vernachlässigtes, und Tranh zeigt ein kleines, leicht irres Lächeln, und sie kommen zusammen im Kreis der Musik, ein Jäger und das Wesen, das ys jagt, und alle Blicke sind auf sie gerichtet, und aus dem Augenwinkel sieht Thal YULI, den hellsten Stern am Firmament, wie ys mit sys Entourage davonstapft. Blasiert.
Die Meeja warten nur darauf, dass sie sich küssen und das Drama perfekt machen, doch trotz der Kaskaden aus erotischen Skulpturen, die sich von jeder Säule und jedem Pfeiler herabstürzen, sind sie indische Neuts, und der richtige Ort und die richtige Zeit für den Kuss ist nicht hier und nicht jetzt.
Dann sitzen sie im Taxi, und Thal weiß nicht, wie oder wo, doch die Dunkelheit ist sehr groß, und die Musik hallt in sys Ohren nach, und die Chota Pegs dröhnen in sys Kopf, aber allmählich zerbrechen und vereinzeln sich die Dinge wieder. Thal weiß jetzt, was ys will. Ys weiß, was geschehen wird. Die Gewissheit ist ein dumpfes, rötliches Pochen in sys Unterbauch.
Auf der Rückbank des ruckelnden Phatphat lässt Thal sys Unterarm, die weiche Haut der Innenseite nach oben, auf Tranhs Schenkel fallen. Ein kurzes Zögern, dann streicheln Tranhs Finger über die empfindsame, haarlose Haut, suchen die verborgenen Knospen des Hormonkontrollsystems unter der Haut und klopfen zart den Erregungskode. Unmittelbar darauf spürt Thal, wie sys Herzschlag zulegt, wie sys Atem stockt, wie sys Gesicht errötet. Sex lässt sys Körper schwingen wie eine angeschlagene Sitar, jeder Akkord und jedes Organ klingen harmonisch zusammen. Tranh bietet Thal sys Arm an. Ys spielt mit den subdermalen Empfängern, winzig und empfindlich wie Gänsehaut. Ys spürt, wie Tranh erstarrt, als der Hormonschub kommt. Sie sitzen Seite an Seite im schaukelnden Taxi, ohne sich zu berühren, doch sie zittern vor Lust, unfähig zu sprechen.
Das Hotel liegt am Flughafen, bequem, anonym, mit internationaler Diskretion. Die gelangweilte Rezeptionistin blickt kaum von ihrem romantischen Magazin auf. Der Nachtportier rührt sich, bis er die Gäste identifiziert hat, und versteckt sich wieder hinter den Cricket-Highlights im Fernsehen. Ein gläserner Aufzug bringt sie an der Seite des Hotels hinauf zu ihrem Zimmer im fünfzehnten Stock. Das Muster der Flughafenlichter breitet sich immer weiter um sie herum aus wie ein mit Edelsteinen besetzter Rock. Der Himmel wimmelt von Sternen und den Navigationslichtern von Truppentransportern, die im Zuge der erhöhten Alarmbereitschaft anfliegen. Heute Nacht bebt alles, im Himmel und auf der Erde.
Sie stürzen ins Zimmer. Tranh will nach ys greifen, doch Thal entwindet sich kokett. Eine nötige Sache fehlt noch. Thal findet die Zimmeranlage und steckt einen Chip ein. FUCK MIX. Nina Chandra spielt, und Thal schwankt und schließt die Augen und schmilzt dahin. Tranh kommt auf ys zu, bewegt sich im Rhythmus, tritt aus sys Schuhen, streift den rein weißen Mantel ab, den Leinenanzug, die Netzunterwäsche von einer Großen Bekannten Marke. Ys bietet ys sys Arm an. Thal streicht mit den Fingern über die Orgasmustasten.
Alles ist Soundtrack.
Der Geist der sich verflüchtigenden Chota Pegs weckt Thal und treibt ys ins Badezimmer, um Wasser zu trinken. Ys starrt, immer noch betrunken, immer noch schwindlig von dem, was geschehen ist, auf den nicht enden wollenden Strahl aus der Mischbatterie. Das Zimmer ist in graues Vordämmerungslicht getaucht. Tranh sieht auf dem Bett so winzig und zerbrechlich aus. Die Flugzeuge fliegen unausgesetzt. Etwas in diesem Morgenlicht lässt jede Operationsnarbe an Tranhs Körper deutlich hervortreten. Thal schüttelt den Kopf, hat plötzlich das dringende Bedürfnis zu weinen, legt sich aber dennoch neben Tranh und erzittert, als ys spürt, wie sich das Neut im Schlaf bewegt und einen Arm um ys schlingt. Thal döst ein und wacht erst wieder auf, als das Zimmermädchen gegen die Tür hämmert und fragt, ob sie das Zimmer machen kann. Es ist zehn Uhr. Thal hat einen furchtbaren Kater. Tranh ist gegangen. Sys Kleidung, sys Schuhe, sys zerfetzte Unterwäsche. Sys Handschuhe. Fort. Ys hat eine Karte zurückgelassen, mit einem Straßennamen, einer Adresse und zwei Worten: keine Szene.
8.
Vishram
Der Conférencier hat das Publikum jetzt wirklich am Haken. Unten in der Garderobe spürt Vishram das Gelächter wie Wellen an eine Küste branden. Tiefes Lachen. Ein Lachen, gegen das man nichts tun kann, mit dem man nicht mehr aufhören kann, selbst wenn es wehtut. Das schönste Geräusch der Welt. Lacht nur für mich, Leute. Man kann ein Publikum am Klang seines Lachens erkennen. Das dünne Lachen aus dem Süden, das flache Lachen aus den Midlands und das schallende Gelächter wie Kirchengesang von weit oben auf den Inseln; aber das da draußen ist gutes Glasgow-Gelächter. Das Lachen des heimischen Publikums. Vishram Ray trippelt auf der Stelle, bläst die Wangen auf und liest die Kritiken aus der Boulevardpresse, die an die Wand der Garderobe getackert sind. Er steht so kurz vor einer Zigarette.