»Wir sind hier in der Nähe des Sarkhand Roundabout, nicht wahr?«, sagt Vishram auf Hindi. »Ich würde ihn gern sehen.«
Der Fahrer wackelt mit dem Kopf und biegt an der nächsten Kreuzung rechts ab.
»Wohin fahren wir?«, fragt Marianna Fusco.
»Zu etwas, wovon Sie Ihrer Familienkonstellation erzählen können«, sagt Vishram.
Die Hauptstraße wurde von der Polizei gesperrt, so dass der Fahrer einen Weg nimmt, den er kennt, durch eingeweideartige schmale Hintergassen, bis er plötzlich mitten in einen Tumult gerät. Er tritt auf die Bremse. Ein junger Mann rollt über die Motorhaube. Er rappelt sich auf, scheint eher irritiert als verletzt zu sein, ein pummeliger Anfangzwanziger mit dem Flaum eines heiligen Schnurrbarts. Trotzdem hat der Zusammenstoß den Wagen und die Insassen durchgeschüttelt. Sofort wendet sich die Aufmerksamkeit der Menge von der bunten Hanuman-Statue unter dem schattigen Beton-Chhatri ab. Hände trommeln auf die Haube, das Dach, gegen die Türen, lassen den Wagen auf den Stoßdämpfern wippen. Die Menge sieht einen großen Mercedes mit getönten Scheiben und Firmenwimpeln — etwas, das mit den Mächten alliiert ist, die ihr Heiligtum zerstören und in eine Metrostation verwandeln wollen.
Der Fahrer legt den Rückwärtsgang ein und gibt Gummi, als er durch die Gasse zurücksetzt, unter den Wäscheleinen und gebrechlichen Balkonen hindurch. Ziegelsteine fliegen durch die Luft und knallen gegen die Metallkarosserie. Marianna Fusco stößt einen leisen Schrei aus, als die Windschutzscheibe plötzlich von einem weißen Spinnennetz überzogen ist. Der Fahrer lenkt nach der Heckkamera und steuert den Wagen zwischen zwei Bambusgerüsttürmen hindurch. Die jungen Karsevaks jagen den Wagen, schlagen ihn mit Lathis und verfluchen die treulosen Ranas und ihre dämonischen moslemischen Imageberater. Sie schwenken die abgerissenen Firmenwimpel. Eine Benzinbombe in diesen Gassen, und es würde Hunderte von Toten geben, denkt Vishram Ray. Aber der Fahrer navigiert durch das Labyrinth, bis er den Ausgang gefunden hat, eine kleine Lücke im stetigen Verkehrsstrom ausnutzt und den Wagen rückwärts hineinwirft. Laster Busse Mopeds kommen schlagartig zum Stehen. Der Fahrer hantiert mit der Handbremse. Die heiligen Jungen folgen ihnen durch den Verkehr, zwängen sich zwischen Phatphats und japanischen Pick-ups hindurch, die mit hinduistischer Ikonographie geschmückt sind. Sie rennen und kommen näher. Der Fahrer hebt verzweifelt die Hände. In diesem Verkehr lässt sich nichts machen. Als Vishram sich umblickt, kann er ihre Buttons an den Hemden lesen. Dann schreit Marianna Fusco Großer Gott!, und der Wagen kommt so abrupt zum Stehen, dass Vishrams Nasenrücken gegen die Lehne des Fahrersitzes stößt. Durch Tränen und Benommenheit sieht er, wie vor ihm ein stählerner Dämon aus dem Himmel fällt. Ravana, der Verschlinger, der Dämonenkönig, kauert auf hydraulischen Titanschenkeln, zehn Schwertklingen wie ein Fächer ausgebreitet. Der winzige Gottesanbeterinnenkopf blickt genau in seine Richtung und entfaltet ein Dentistenarsenal aus Sensoren und Sonden. Dann setzt er zu einem weiteren Sprung an. Vishram spürt, wie krallenbewehrte Zehen am Wagendach reißen. Er fährt herum und sieht durch das offene Heck, wie die Maschine neben einer Bushaltestelle landet. Der Verkehr erstarrt, die Karsevaks flüchten wie eine Herde Ziegen. Das Ding stapft über die Straße davon und vierteilt den Boulevard mit Gatling-Kanonen. Auf dem Panzer trägt es das Sternenbanner. Ein US-Kampfroboter.
»Was zum ...?« Während seiner Einreise muss der Krieg ausgebrochen sein. Der Fahrer zeigt über die Kreuzung auf eine Straße mit Neonschaufenstern und leuchtenden Schirmen, wo ein Mann in dunkler und teurer Kleidung die sich entfernende Maschine mit gebrüllten Verwünschungen eindeckt. Hinter ihm liegen zwei filetierte Mercedes-Geländewagen. Der Mann hebt einen Klumpen aus Metall und Elektronik auf und wirft sie dem Kampfroboter hinterher. »Ich weiß immer noch nicht ...«
»Sahb«, sagt der Fahrer und legt den Gang ein. »Waren Sie so lange fort, dass Sie Varanasi vergessen haben?«
Die Fahrt zu Marianna Fuscos Hotel verläuft in bedrücktem Schweigen. Sie bedankt sich höflich bei ihm, der Rajput-Pförtner salutiert und nimmt ihre Tasche entgegen. Dann steigt sie die Stufen hinauf, ohne sich noch einmal umzublicken.
Sieht eher nicht nach einem Folge-Fick aus.
Die ramponierte Limousine fährt durch das Tor zwischen dem Auto-Ersatzteilladen und der IT-Schule, im Schutz der Ashok-Bäume. Sofort ist er in einer anderen Welt. Das Erste, was man sich in Indien mit Geld kaufen kann, ist Privatsphäre. Der Straßenlärm wird zu einem leisen Hintergrundrauschen. Der Wahnsinn der Stadt ist ausgeblendet.
Das Hauspersonal hat entlang der Auffahrt Naphtha-Fackeln entzündet, um den heimgekehrten verlorenen Sohn willkommen zu heißen. Trommler begrüßen Vishram Ray mit einem Zapfenstreich und eskortieren den Wagen. Dann kommt das Haus in Sicht, groß und stolz und im Flutlicht unglaublich weiß. Vishram spürt ungebetene Tränen in den Augen. Als er noch unter diesem Dach lebte, schämte er sich, wenn er zugeben musste, dass er in einem Palast residierte. Die Säulen und Ziergiebel ließen ihn erschaudern, genauso wie der breite Portikus, mit Geißblatt und Hibiscus bewachsen, das verdammte Weiß, die Innenräume aus gefegtem Marmor und kuriosen alten pornographischen Holzschnitzereien und Decken, die im nepalesischen Stil bemalt sind. Eine Händlerfamilie hatte es während der britischen Herrschaft so erbaut, dass es sie an ihre Heimat erinnerte. Das Shanker Mahal hatten sie es genannt. Nun sind Vishrams jugendliche Verachtung und die Scham, privilegiert zu sein, verschwunden, als er aussteigt und das Haus ihn mit den wohlvertrauten Gerüchen nach Staub und Niembäumen überfällt, dem Moschus der Rhododendren und dem leichten Gestank des Abwassersystems, das nie richtig funktioniert hat.
Sie erwarten ihn auf der Treppe. Der alte Shastri auf der untersten Stufe namastiert bereits. Er wird auf zwei Seiten vom Hauspersonal flankiert, die Frauen zu seiner Linken, die Männer zur Rechten. Ram Das, der greise Gärtner, ist immer noch da. Er muss inzwischen unvorstellbar alt sein, aber noch genauso eifrig in seinem ewigen Krieg gegen die Affen, wie Vishram keinen Augenblick lang bezweifelt. Auf den mittleren Stufen stehen seine Brüder. Ramesh, der älteste, wirkt größer und schmaler denn je, als würde die Gravitation der interstellaren Objekte, die er studiert, ihn in Richtung Himmel ziehen, ihn zu einem dünnen Strang aus Fragen machen. Immer noch kein weiblicher Anhang. Selbst in Glasgow hat Vishram aus der indischen Diaspora-Gerüchteküche von Wochenendreisen nach Bangkok gehört. Daneben Govind, der perfekte Bruder. Perfekter Anzug, perfekte Frau, perfekte Zwillingserben Runu und Satish. Vishram bemerkt, dass er am Rumpf Fett angesetzt hat. DiDi, der Stern, die ehemalige Moderatorin im Frühstücks-Tivi und begehrte Braut, ist an seiner Seite. Und an ihrer Seite wiegt die Aya den jüngsten Sprössling der Dynastie. Ein Mädchen. Voll 2047-mäßig. Vishram gurrt und kichert die kleine Priya an, aber etwas an ihr vermittelt ihm den Eindruck, dass sie eine Brahmanin ist. Etwas Ursprüngliches, etwas Pheromonisches, eine Veränderung in der Körperchemie.
Seine Mutter hält die oberste Stufe besetzt, mit überragender Ehrerbietung, wie sie in Vishrams Erinnerung schon immer gewesen war. Ein Schatten zwischen den Säulen. Sein Vater ist nicht anwesend.
»Wo ist Dadaji?«, fragt Vishram.
»Er wird sich morgen in der Firmenzentrale mit uns treffen«, ist alles, was seine Mutter dazu sagt.