»Unwahrscheinlich. Kaihs der Stufe eins verfügen selten über Sprachvermögen. Wir haben es hier mit etwas zu tun, das ungefähr die Intelligenz eines Affen besitzt.«
»Und das Verhalten eines Tigers«, fügt Sergeant Sunder hinzu.
Mr. Nandha ruft Shiva aus den räumlichen Dimensionen der Lebensmittelfabrik ab und bewegt seine Hände zu einer Mudra, worauf die Fabrikhalle in einem leuchtenden Nervensystem der Informationsleitungen zum Leben erwacht. Shiva benötigt nur einen kurzen Moment, um sich Zugang zum Intranet der Fabrik zu verschaffen und den Server ausfindig zu machen, einen kleinen, unscheinbaren Würfel in einer Ecke eines Schreibtischs. Dann schleicht er sich durch die Firewall in das Fabriknetz ein. Mr. Nandha sieht im geistigen Augenwinkel verschwommene Datenverzeichnisse vorbeiziehen. Da. Passwortgeschützt. Er ruft Ganesha. Der Beseitiger von Hindernissen trifft sogleich auf einen Quantenschlüssel. Mr. Nandha ist verärgert. Er schickt Ganesha fort und holt Krishna. Hinter dieser Quantenmauer könnte sich ein Djinn verbergen. Genauso gut könnten es dreitausend Bilder von chinesischen Mädchen sein, die Sex mit Schweinen haben. Mr. Nandhas größte Sorge ist, dass sich die illegale Kaih reproduziert hat. Eine Mailsendung, und es wird Wochen dauern, um alles aufzuspüren. Krishna meldet, dass das Log für die Kommunikation nach außen sauber ist. Also ist sie noch irgendwo im Gebäude. Mr. Nandha schaltet das drahtlose Netz ab, zieht die Stecker des Servers und klemmt ihn sich unter den Arm. Seine Leute im Ministerium werden die Geheimnisse des Kastens knacken.
Er hält inne und schnuppert. Ist der Tikka-Pasta-Gestank stärker geworden, schärfer? Mr. Nandha hustet. Etwas hat sich an seinem Gaumen festgesetzt, angebranntes Chili. Er sieht, wie Sen schnieft und die Stirn runzelt. Er hört das Summen einer schweren elektrischen Entladung.
»Alle raus!«, ruft er, und in diesem Moment setzt sich der Kettenantrieb des Rolltors ruckend in Bewegung, während gleichzeitig aus dem Kessel Nummer zwei erstickender schwarzer Chilirauch hervorquillt. »Schnell, schnell!«, befiehlt er und blinzelt ätzende Tränen weg, das Taschentuch vor den Mund gepresst. »Raus raus!« Er folgt den anderen, die unter dem sich herabsenkenden Tor nach draußen stürmen. Es wird knapp, nur wenige Millimeter. In der Gasse klopft er sich verärgert den Straßendreck von seinem gebügelten Anzug.
»Das ist höchst unerfreulich«, sagt Mr. Nandha. Er wendet sich an die Tikka-Pasta-Arbeiter. »Sie da! Gibt es einen anderen Weg hinein?«
»Auf der anderen Seite, Sahb«, antwortet ein Jugendlicher mit einem Hautleiden, das Mr. Nandha nicht in der Nähe von menschlichen Nahrungsmitteln sehen möchte.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagt er und hebt seine Waffe. »Vielleicht hat sie die Ablenkung bereits zur Flucht genutzt. Folgen Sie mir, bitte.«
»Ich werde nicht noch einmal hineingehen«, sagt Sunder, die Hände an die Oberschenkel gelegt. Er ist ein Mann mittleren Alters und hat an den Hüften etwas Speck angesetzt. Angelegenheiten dieser Art werden nirgendwo in den Dienstvorschriften der Polizei von Nawada erwähnt. »Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber wenn das da drin kein Djinn ist, weiß ich nicht, was es sonst sein soll.«
»Es gibt keine Djinns«, sagt Mr. Nandha. Sen schließt sich ihm an. Ihr Tarnanzug hat exakt die Färbung von Tikka-Pasta angenommen. Sie bedecken ihre Gesichter, zwängen sich durch die stinkende Seitengasse, die mit Zigarettenstummeln gepflastert ist, und dringen durch den Notausgang ein. Die Luft ist mit stechendem Chiliqualm geschwängert. Mr. Nandha spürt, wie der Rauch in seiner Kehle kratzt, während er sich in seine Avatare vertieft und sein mächtigstes Programm aufruft: Kali, die Zerstörerin. Er klinkt sich ins Fabriknetz ein und entlässt sie ins System. Sie wird sich im Funk- und Kabelnetz ausbreiten und sich in jeden mobilen und stationären Prozessor kopieren. Alles, was keine Lizenz besitzt, wird sie markieren, aufspüren und löschen. Von Tikka-Pasta Inc. werden nur noch Fetzen übrig sein, wenn Kali ihre Arbeit beendet hat. Sie ist ein Grund, warum Mr. Nandha die Fabrik isoliert hat. Würde man Kali ins globale Netz entlassen, könnte sie innerhalb von Sekunden einen Schaden von unvorstellbarem Ausmaß anrichten. Es gibt keinen besseren Kaih-Jäger als eine andere Kaih. Mr. Nandha hält die Waffe bereit. Oft genügt bereits die bloße Witterung Kalis, um eine Kaih aus ihrem Versteck zu locken wie eine Schlange, die sich einem Mungo stellt.
Bei voller Leichthoek-Auflösung ist Kali ein erschreckender Anblick, mit dem Gürtel aus abgetrennten Händen, die Säbel gereckt, die Zunge ausgestreckt und die Augen weit aufgerissen, während sie über der langsam herabsinkenden Chilirauchwolke aufragt. Um sie herum erlöschen Datenkonstellationen, eine nach der anderen. So muss der Tod sein, denkt Mr. Nandha. Das zarte blaue Glimmen des Informationsflusses flackert und geht schließlich ganz aus. Immer mehr Nervenimpulse setzen aus, die Wahrnehmungen verblassen, das Bewusstsein löst sich auf.
Die verstummenden Maschinengeräusche verunsichern Sen, und sie tritt näher an Mr. Nandha heran. Hier sind Mächte und Wesenheiten am Werk, die sie nicht begreift. Als sich eine ganze Minute lang nichts gerührt hat oder dunkel geworden ist, sagt Sen: »Glauben Sie, dass jetzt alle ausgeschaltet sind?«
Mr. Nandha fordert einen Bericht von Kali an.
»Ich habe zweihundert verdächtige Dateien und Programme gelöscht. Wenn auch nur ein Prozent davon Kaih-Kopien waren ...« Aber noch etwas anderes als Chilirauch irritiert seine Sinne.
»Was treibt sie dazu? Warum rasten sie plötzlich aus?«, fragt Sen.
»Ich habe festgestellt, dass die Ursache eines Computerproblems in allen Fällen eine menschliche Schwäche ist«, sagt Mr. Nandha und dreht sich langsam im Kreis, auf der Suche nach dem, was sein Misstrauen geweckt hat. »Ich vermute, unser Freund hat illegale Kaih-Hybriden aus den Sundarbans eingekauft. Nach meiner Erfahrung kommt niemals etwas Gutes aus den Datenoasen.«
Sen hat noch eine weitere Frage, aber Mr. Nandha bringt sie zum Schweigen. Er hört eine Bewegung, sehr schwach und sehr weit entfernt. Kali hat gerade noch genug von der Office-Software übrig gelassen, dass Shiva sich in das Sicherheitssystem einklinken kann. Auf den Kamerabildern ist nichts zu sehen, wie er vermutet hat, aber in der diffusen Infrarotwelt rührt sich etwas. Sein Blick schweift zum Brückenkran am Ende der Halle.
»Ich kann dich sehen«, sagt er und gibt Sen einen Wink. Sie geht zum einen Ende des Krans, Mr. Nandha zum anderen. Das Ding scheint sich irgendwo an der Decke aufzuhalten. Sie laufen aufeinander zu.
»Irgendwann wird sie auszubrechen versuchen«, warnt Nandha.
»Was wird ausbrechen?«, flüstert Sen und hält ihre schlagkräftige Waffe bereit.
»Ich hege den Verdacht, dass sie sich in einen Roboter kopiert hat und beabsichtigt, auf diese Weise zu entkommen. Rechnen Sie mit etwas Kleinem, das sich schnell bewegt.«
Mr. Nandha kann es jetzt zwischen den hallenden Schritten der Menschen hören. Etwas krabbelt am Dach und sucht nach einer Fluchtmöglichkeit. Mr. Nandha hebt eine Hand, um Jemadar Sen zu ermahnen, vorsichtig zu sein. Er hat das Gefühl, sich genau darunter zu befinden. Mr. Nandha blinzelt zu dem Nest aus Kabeln und Rohren hinauf. Ein Kameraauge an einem Ausleger schießt auf ihn zu. Mr. Nandha springt zurück. Sen hebt die Waffe, und bevor sie nachdenkt, feuert sie eine Salve auf die Decke ab. Ein Objekt fällt herab, so nahe, dass es Mr. Nandha beinahe gestreift hätte. Ein Ding, das nur aus zappelnden Gliedmaßen und hektischen Bewegungen zu bestehen scheint. Es ist ein Inspektionsroboter, ein kleines, kletterfähiges Spinnenwesen. Einzelne Firmen können sich solche Maschinen normalerweise nicht leisten, aber für gewöhnlich schaffen die Entwicklungsgesellschaften eine an, die für sämtliche Klienten des Blocks arbeitet. Das Ding dürfte also Zugang zu sämtlichen Firmen in diesem Industriegebiet haben. Die Maschine bäumt sich auf, stürmt auf Mr. Nandha zu, dreht sich und eilt im chaotischen Zickzack unter dem Brückenkran in Sens Richtung. Das Ding weiß nur, dass diese Geschöpfe es töten wollen und dass es weiterexistieren will. Sen gerät in Panik, sie schießt wild um sich und verliert jede militärische Vernunft, als das Ding auf sie zuspringt. Sie hantiert mit ihrem Sturmgewehr. Mr. Nandha erkennt mit absoluter, ruhiger Klarheit, das ihre Panik ihn töten wird.