»Irgendein russisches Model«, antwortet Shaheen Badoor Khan mit seiner sanften, präzisen Stimme.
»Ah!«, sagt Minister Srinavas und reißt die Augen auf. »Yuli.«
»Wie bitte?«
»Yuli«, wiederholt Srinavas und reckt den Hals. »Das Neut.«
Das Wort klingt wie der Schlag einer Tempelglocke. Die Menge teilt sich. Shaheen Badoor Khan hat nun einen klaren und ungehinderten Blick in die VIP-Lounge. Und er ist wie gebannt. Er sieht eine große Gestalt in einem langen, schön geschnittenen Mantel aus weißem Brokat. Der Stoff ist mit Mustern aus tanzenden Kranichen bestickt, die ihre Schnäbel ineinander verschlingen. Die Gestalt hat ihm den Rücken zugekehrt, so dass Shaheen Badoor Khan kein Gesicht erkennen kann. Aber er sieht die geschwungenen Linien aus blasser Haut und die langen Hände, die sich zierlich bewegen, einen elegant geschwungenen Nacken, die glatte und perfekte Rundung der haarlosen Kopfhaut.
Die Gestalt dreht sich zu ihm um. Shaheen Badoor Khan sieht ein Kinn, einen Wangenknochen. Ein leises Keuchen entfährt ihm, unhörbar im Tumult des Pressekorps. Das Gesicht. Er darf nicht auf das Gesicht schauen, weil er sonst verloren, verdammt, versteinert wäre. Die Menge verschiebt sich erneut, und menschliche Körper versperren ihm den Blick. Shaheen Badoor Khan steht wie gelähmt da.
»Khan.« Eine Stimme. Sein Minister. »Khan, alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Äh, ja, Herr Minister. Mir ist nur ein wenig schwindlig. Die Luftfeuchtigkeit.«
»Ja, diese verdammten Banglas sollten dringend ihre Klimaanlagen auf Vordermann bringen.«
Der Bann ist gebrochen, doch als Shaheen Badoor Khan seinen Minister den Flugsteig entlangführt, ist ihm klar, dass er nie wieder Frieden finden wird.
Der Ticketkontrolleur hält für alle Geschenke von Minister Naipaul bereit, Vakuumfläschchen mit dem Wappen der Vereinten Staaten von Ost- und Westbengalen. Als er angeschnallt ist und der Vorhang zur Economy-Klasse geschlossen wird und der BharatAir-Airbus über den unebenen Beton holpert, schraubt Shaheen Badoor Khan den Deckel seines Fläschchens auf. Es enthält Eis, Gletscherwürfel für Sajida Ranas Gin Sling. Shaheen Badoor Khan schließt das Fläschchen wieder. Der Airbus beschleunigt, und als die Räder sich von Bengalen lösen, drückt Shaheen Badoor Khan das Fläschchen an sich, als könnte die Kälte die Wunde in seinem Bauch heilen. Doch das kann sie nicht. Sie wird es nie können. Shaheen Badoor Khan blickt aus dem Fenster auf das langsam ergrauende Land, als der Airbus auf Westkurs Richtung Bharat geht. Er sieht die weiße Kuppel eines Schädels, den Bogen eines Halses, blasse, liebreizende Hände, elegant wie Minarette, Wangenknochen, die sich ihm zuwenden, wie ein architektonisches Kunstwerk. Tanzende Kraniche.
Bislang hatte er sich in Sicherheit gewiegt. Sich für rein gehalten. Shaheen Badoor Khan drückt das Gletschereis an sich, die Augen zum stummen Gebet geschlossen, das Herz vor Ekstase strahlend.
4
Najia
Lal Darfan, die Nummer eins der Soapstars, gibt Interviews in der Sänfte eines elefantenförmigen Luftschiffs, das vor den südlichen Hängen des nepalesischen Himalaya kreuzt. In einem feinen Hemd und weiter Hose ruht er an ein Kissen gelehnt auf einem niedrigen Diwan. Hinter ihm ist der Himmel mit Bannern aus hohen Wolken gestreift. Die Berggipfel bilden eine Barriere aus gezacktem Weiß, eine Mauer am Rand des Sichtfeldes.
Der mit Quasten besetzte Saum der Sänfte wogt im Wind. Lal Darfan, der Liebesgott von Stadt und Land, der größten und strahlendsten Soap von Indiapendent Production, befindet sich in Gesellschaft eines Pfaus, der am Kopfende des Diwans steht. Er füttert ihn mit den Krümeln eines Reiskekses. Lal Darfan ist auf Low-Fat-Diät. Das ist im Moment das wichtigste Klatschthema in den Chati-Magazinen.
Die Diät ist eine geniale Idee für einen virtuellen Soapi-Star, findet Najia Askarzadah. Sie holt tief Luft und eröffnet das Interview.
»Für uns im Westen ist es nur schwer zu verstehen, dass Stadt und Land so unglaublich populär ist. Hier jedoch besteht ein fast genauso großes Interesse an Ihnen als Schauspieler wie an Ihrer Rolle als Ved Prekash.«
Lal Darfan lächelt. Seine Zähne sind unfassbar und herrlich weiß, wie es in den Tivi-Chat-Kanälen heißt.
»Sogar noch mehr«, sagt er. »Aber ich glaube, Ihre eigentliche Frage lautet, warum eine Kaih-Figur einen Kaih-Schauspieler benötigt. Die Illusion in der Illusion. Habe ich recht?«
Najia Askarzadah ist zweiundzwanzig, arbeitet frei und ungebunden, ist seit vier Wochen in Bharat und hat soeben das Interview ergattert, von dem sie hofft, dass es ihr eine große Karriere sichert.
»Die Aufhebung der Unglaubwürdigkeit«, sagt sie und horcht auf das Summen der Triebwerke des Luftschiffs, eines in jedem Elefantenfuß.
»Das ist ganz einfach. Die Rolle ist niemals genug. Das Publikum braucht die Rolle hinter der Rolle, ganz gleich, ob ich es bin« — Lal Darfan berührt selbstironisch seine rundliche Taille — »oder ein Hollywood-Schauspieler aus Fleisch und Blut oder ein Popidol. Ich möchte Ihnen mit einer Gegenfrage antworten. Was wissen Sie zum Beispiel über irgendeinen westlichen Popstar wie Blóchant Matthews? Was Sie im Fernsehen verfolgen und was Sie in den Soap-Magazinen und den Chati-Foren lesen können. Und was wissen Sie über Lal Darfan? Genau das Gleiche. Diese Schauspieler sind für Sie nicht realer als ich und deshalb auch nicht weniger real.«
»Aber man kann einem realen Prominenten jederzeit begegnen. Die Leute sehen ihn zufällig am Strand, auf dem Flughafen oder in einem Geschäft ...«
»Kann man das? Woher wissen Sie, dass die Leute solche Begegnungen hatten?«
»Weil ich davon gehört habe. Ach so ...«
»Sie verstehen, was ich meine? Alles wird Ihnen durch die Medien vermittelt. Und mit Verlaub, ich bin ein realer Prominenter, weil meine Prominenz in der Tat äußerst real ist. Ich finde, heutzutage ist es allein die Prominenz, die irgendetwas real macht, nicht wahr?«
Eine halbe Million Arbeitsstunden wurden auf Lal Darfans Stimme verwendet. Diese Stimme soll verführen, und sie umgarnt Najia Askarzadah in einem fort. Die Stimme sagt: »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Sie ist sehr einfach. Was ist Ihre früheste Erinnerung?«
Sie ist nie sehr fern, jene Nacht des Feuers, der Hektik und der Furcht. Sie durchzieht ihr Leben wie eine geologische Iridiumschicht. Vater holt sie aus dem Bett, über den Boden ist Papier verstreut, das Haus ist voller Lärm, und Lichter zucken im Garten. Daran erinnert sie sich am deutlichsten, an die Lichtkegel der Taschenlampen, die über die Rosenbüsche wedeln, auf der Suche nach ihr. Die Flucht über das Grundstück. Ihr Vater, der leise flucht, während er immer wieder versucht, den Motor des Wagens anzulassen. Die Lichter, die immer näher kommen. Ihr Vater, unablässig fluchend, doch stets höflich, selbst als die Polizei kommt, um ihn zu verhaften.
»Ich liege auf der Rückbank eines Autos«, sagt Najia. »Ich drücke mich ins Polster, und es ist Nacht, und wir rasen durch Kabul. Mein Vater sitzt am Lenkrad, neben ihm meine Mutter, aber ich kann sie über die Rückenlehnen nicht sehen. Ich höre sie nur sprechen, es klingt sehr weit entfernt, und sie haben das Radio eingeschaltet. Sie horchen auf etwas, aber ich kann nichts verstehen.« Die Nachricht über die Razzia im Frauenhaus und das Ausstellen ihrer Haftbefehle, wie sie jetzt weiß. Nach dieser Bekanntmachung war ihnen klar, dass ihnen nur noch Minuten blieben, bis die Polizei den Flughafen abgeriegelt hatte. »Ich sehe die Straßenlampen, die an uns vorbeiziehen. Sehr regelmäßig und exakt. Das Licht wird heller, wischt über mich hinweg, wandert an den Rückenlehnen hoch und fliegt dann zum Fenster hinaus.«
»Das sind sehr starke Bilder«, sagt Lal Darfan. »Wie alt waren Sie damals? Drei, vier?«