»Nicht ganz vier.«
»Auch ich habe eine früheste Erinnerung. Deshalb weiß ich, dass ich nicht Ved Prekash bin. Ved Prekash folgt einem Drehbuch, aber ich erinnere mich an einen Schal mit Paisleymuster, der im Wind flattert. Der Himmel war blau und klar, und das Ende des Schals flattert von der Seite heran, wie eine Filmaufnahme, bei der die Handlung außerhalb des Bildes stattfindet. Ich sehe sehr deutlich, wie der Schal flattert. Man hat mir gesagt, das wäre auf dem Dach unseres Hauses in Patna gewesen. Mama hatte mich nach oben gebracht, um den Abgasen auf Bodenhöhe zu entgehen. Ich lag auf einer Decke, über mir ein Sonnenschirm. Der Schal war gewaschen worden und hing auf der Leine. Komisch, er war aus Seide. Daran erinnere ich mich ganz deutlich. Es müssen mindestens zwei gewesen sein. Da! Zwei Erinnerungen. Na gut, werden Sie sagen, Ihre sind fabriziert, aber meine beruhen auf Erfahrungen. Aber woher wissen Sie das? Es könnte etwas sein, das man Ihnen erzählt hat und woraus Sie eine Erinnerung gemacht haben. Es könnte eine falsche Erinnerung sein, sie könnte künstlich erzeugt und Ihnen eingepflanzt worden sein. Viele Hunderttausend Amerikaner glauben, sie wären von grauen Aliens entführt worden, die ihnen irgendwelche Maschinen ins Rektum gesteckt haben. Pure Phantasie und zweifellos von Anfang bis Ende falsche Erinnerungen, aber macht sie das zu falschen Menschen? Woraus bestehen unsere Erinnerungen überhaupt? Aus Musterveränderungen in Proteinmolekülen. Ich glaube, wir sind eigentlich gar nicht so unterschiedlich. Dieses Luftschiff, dieses alberne Elefantending, das ich mir habe bauen lassen, die Vorstellung, wir würden über Nepal dahinschweben — für Sie sind das Muster elektrischer Ladungen in Proteinmolekülen. Aber das gilt für alles. Sie bezeichnen es als Illusion, ich würde von den fundamentalen Bausteinen meines Universums sprechen. Ich stelle mir vor, dass ich alles anders sehe als Sie, aber woher will ich das wissen? Woher weiß ich, dass etwas Grünes für Sie genauso aussieht wie für mich? Wir alle sind in unsere kleinen Ich-Schachteln eingesperrt, ob sie nun aus Knochen oder Plastik bestehen, Najia, und keiner von uns kommt jemals heraus. Kann irgendjemand von uns dem trauen, woran wir uns zu erinnern glauben?«
Ich tue es, Computer, denkt Najia Askarzadah. Ich muss meinen Erinnerungen trauen, weil alles, was ich bin, darauf beruht. Der Grund, warum ich hier bin, warum ich in dieser aberwitzigen virtuellen Realität mit einem Tivi-Soapstar spreche, der sich einbildet, bedeutetend zu sein, der Grund dafür sind die zuckenden Lichter.
»Aber in diesem Fall würden Sie, als Lal Darfan, doch sehr hart am Wind segeln. Ich meine die Hamilton-Gesetze über Künstliche Intelligenzen ...«
»Die Krishna Cops? McAuleys Hijras!«, sagt Lal Darfan voller Gehässigkeit.
»Ich will damit sagen, wenn Sie behaupten, ein Ich-Bewusstsein zu haben, was Sie offenbar tun, unterschreiben Sie damit Ihr eigenes Todesurteil.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich ein Bewusstsein oder was auch immer habe. Ich bin eine Kaih der Stufe zwei Komma acht, und damit bin ich rundum zufrieden. Ich behaupte nur, real zu sein, genauso real wie Sie.«
»Also könnten Sie keinen Turing-Test bestehen?«
»Ich sollte keinen Turing-Test bestehen. Würde keinen Turing-Test bestehen. Turing-Test, was wäre damit überhaupt bewiesen? Hören Sie, ich unterziehe Sie einem Turing-Test. Klassische Versuchsanordnung, zwei geschlossene Räume und ein Badmash mit einem Schrift-Bildschirm alten Stils. Wir setzen Sie in den einen Raum und Satnam von der PR in den anderen. Ich vermute, er macht die Tour mit Ihnen, weil sie ihm immer die Mädchen geben. Er hält ziemlich viel auf sich. Der Badmash tippt am Bildschirm seine Fragen ein, Sie beide antworten auf die gleiche Weise. Der übliche Ablauf. Satnam hat die Aufgabe, den Badmash zu überzeugen, er sei eine Frau, und er darf lügen, betrügen, alles sagen, was er will, um es zu beweisen. Ich glaube, Sie verstehen, dass es für ihn nicht besonders schwierig wäre. Ließe sich daraus also schließen, dass Satnam eine Frau ist? Ich glaube nicht, und Satnam würde es auf gar keinen Fall behaupten. Was wäre also mit einem Computer, der bei diesem Test beweisen würde, ich-bewusst zu sein? Ist die Simulation einer Sache der Sache selbst gleichzusetzen, oder ist es gerade das Besondere an der Intelligenz, dass sie das Einzige ist, das sich nicht simulieren lässt? Was wird durch solche Tests überhaupt bewiesen? Nur das, worum es bei dem Turing-Test geht. Und wie gefährlich es ist, sich auf eingeschränkte Informationen zu verlassen. Eine Kaih, die intelligent genug wäre, um einen Turing-Test zu bestehen, wäre auch intelligent genug, um zu wissen, wie sie ihn nicht bestehen würde.«
Najia Askarzadah hebt die Hände in gespielter Verzweiflung.
»Ich verrate Ihnen, was ich ganz besonders an Ihnen mag«, sagt Lal Darfan. »Wenigstens haben Sie mir nicht stundenlang blöde Fragen über Ved Prekash gestellt, als wäre er ein realer Star. Apropos, ich muss gleich zum Make-up ...«
»Oh, Verzeihung, danke sehr«, sagt Najia Askarzadah und versucht die überschwängliche, mädchenhafte Journalistin zu spielen, während sie in Wirklichkeit froh ist, aus dem Geistraum dieser pedantischen Kreatur verschwinden zu können. Sie hatte sich etwas Leichtes, Seichtes und Seifiges vorgestellt, doch dann wurde daraus eine existenzielle Phänomenologie mit postmodernem Touch. Sie fragt sich, was ihr Redakteur wohl dazu sagen wird, ganz zu schweigen von den Passagieren des Chicago-Cincinnati-Nachtflugs der TransAm, wenn sie ihr Bordmagazin aus dem Netz an der Rückenlehne ziehen. Lal Darfan lächelt lediglich glückselig sein Publikum an, als sich der Audienzsaal um ihn herum auflöst, bis nur noch ein pures Lewis-Carroll-Grinsen von ihm übrig ist, das im Himalayahimmel verblasst. Das Gebirge faltet sich in Najias Hinterkopf zusammen, und sie befindet sich wieder in der Renderfarm auf dem wackligen Drehstuhl, vor dem sich die gestapelten Zylinder mit den Proteinprozessoren perspektivisch zurechtrücken: Hirne in Sci-Fi-Einmachgläsern.
»Er ist ziemlich überzeugend, nicht wahr?« Satnam-der-viel-auf-sich-hält hat ein recht einnehmendes Aftershave aufgelegt. Najia nimmt den Leichthoek ab, immer noch etwas benommen vom totalen Eintauchen in das Interview-Erlebnis.
»Ich glaube, er denkt, dass er denkt.«
»Genau, wozu wir ihn programmiert haben.« Satnam spielt den Medienprofi und strahlt ein entspanntes Selbstbewusstsein aus, aber Najia bemerkt einen kleinen Shiva-Dreizack an der Platinkette um seinen Hals. »In Wirklichkeit hat Lal Darfan ein genauso eng umrissenes Drehbuch wie Ved Prekash.«
»Das ist mein Thema — Schein und Wirklichkeit. Wenn die Leute an virtuelle Schauspieler glauben, was werden sie dann noch alles mitmachen?«
»Nun verderben Sie uns nicht das ganze Spiel!« Satnam lächelt, während er sie in den nächsten Bereich führt. Er ist fast süß, wenn er lächelt, denkt Najia. »Das hier ist die Metasoap-Abteilung, wo Lal Darfan das Drehbuch bekommt, von dem er glaubt, dass er sich nicht daran hält. Es hat ein Stadium erreicht, in dem die Metasoap genauso groß wie die eigentliche Soap geworden ist.«
Die Abteilung ist ein langer Raum voller Workstations. Die Glaswände sind dunkel polarisiert, die Soap-Farmer arbeiten im Schattenlicht schwacher Strahler und leuchtender Bildschirme. Die Hände der Designer zeichnen im Neuroraum. Najia erschaudert fast, als sie sich vorstellt, ihr Arbeitsleben an einem Ort wie diesem zu verbringen, völlig von der Sonne abgeschottet. Dann erregen Streulicht auf hohen Wangenknochen, ein haarloser Kopf, eine zierliche Hand ihre Aufmerksamkeit, und nun ist sie es, die Satnam ins Wort fällt.
»Wer ist das?«
Satnam reckt den Hals. »Ach, das ist Thal. Er ist neu hier. Er ist für die visuellen Hintergründe verantwortlich.«
»Ich glaube, das richtige Pronomen lautet ›ys‹«, sagt Najia und versucht, durch das Hand-Ballett einen besseren Blick auf das Neut zu erhaschen. Sie kann gar nicht sagen, warum es sie überrascht, einen Vertreter des dritten Geschlechts im Produktionsbüro vorzufinden — in Schweden drängten viele Neuts in die kreative Industrie, und Indiens bedeutendste Soap übt zweifellos eine ähnliche Anziehungskraft aus. Wie ihr nun bewusst wird, ist sie davon ausgegangen, dass die lange Tradition der Trans- und Non-Gender in Indien stets im Verborgenen gepflegt wurde.