Yua überlegte.
»Du sprichst selbst nicht so dumm oder unwissend«, stellte sie fest.
Der Schnabel der Alten wölbte sich zu dem, was bei den Awbriern als Lächeln galt.
»Aber ich bin geübt im Überleben«, erwiderte sie stolz. »In dieser Gesellschaft aufgewachsen, fand ich Wege, klug zu sein und zu lernen, aber das die anderen nie merken zu lassen. Das entstammt der Erfahrung eines ganzen Lebens, und diese Zeit hast du nicht. Man nennt das Gerissenheit, glaube ich. Und was nützte sie? Daß ich meine letzten Tage auf einem Polster verbringe, Drogendämpfe einsauge und davon träume, wie sinnlos alles gewesen ist.«
Wenn Dhutu von diesen Worten entsetzt war, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Sie regte sich kaum.
»Ich glaube«, flüsterte Yua, »daß an dieser Gesellschaft hier mehr ist, als einer Neuen — oder einem Mann — auf den ersten Blick auffällt.«
Wieder kam das Lächeln.
»Ja, so ist es. Innerhalb des Klans gibt es die Gilden, und innerhalb der Gilden Dinge, die — nützlich sind. Eine verborgene Schule, könnte man sagen. Ich verrate dir das nur, weil es für dich auffälliger sein wird als für die Männer, und du wirst besser bestehen, wenn du dich nicht verrätst, nicht die falschen Fragen stellst. Du wirst wissen, daß die Herrschaft der Männer hier eine absolute ist. Sie können mit dir tun, was sie wollen, und du hast keine Rechte und nichts zu bestimmen. Aus diesem Grund geschieht alles, was wir tun, unter großer Gefahr, und ist trotzdem notwendig. Wir haben dieselben Gehirne und Fähigkeiten wie die Männer und dürfen es nicht zeigen. Wir müssen weitab im Hintergrund arbeiten, damit unsere eigenen Ideen als die der Männer, nicht als unsere eigenen gelten.«
»Aber warum?« fragte Yua. »Warum ist das so? Das System scheint reif zu sein für eine Revolution.« Sie hatte Mühe mit diesem Begriff, weil es in der Sprache Awbris dafür keine Entsprechung gab. Der Ausdruck klang wie ›ändern, wie die Dinge stehen‹, aber was sie meinte, war klar.
Die Alte seufzte.
»Mein Kind, du weißt noch nichts und begreifst nicht. Wenn deine erste Zeit vorbei ist, wirst du einsehen, daß dieser Weg der einzige ist. Geh jetzt. Ich befreie dich bis zu deiner ersten Zeit und der Aufnahme in den Klan von der Arbeit. Danach wird dir manches klarer sein. Es mag sein, daß du dich danach wirst umbringen wollen.« Ihre Augen verengten sich. »Und merke dir, wenn irgendeine Gefahr besteht, daß du, und sei es zufällig, verraten könntest, was du jetzt weißt, wirst du einen noch leichteren und schnelleren Ausweg finden.«
Mit dieser Drohung war das Gespräch beendet. Die alte Frau ließ sich zurücksinken, griff nach einem kleinen Kästchen voll feinem, weißem Pulver, sog tief die Luft ein und schien in eine Art lustvoller Versunkenheit zu verfallen. Dhutu machte eine Geste, und sie gingen hinaus und stiegen eine Etage hinunter.
Die Frauen wohnten in spartanischen Unterkünften in verschiedenen Stockwerken, aufgeteilt nach Gilden — Zimmerei, Landwirtschaft, Handwerk und so weiter —, während die unterste Etage für die Frauen ohne Gilde oder Handwerk vorgesehen war. Sie sah aus wie die anderen, ein nackter Raum mit Strohkissen zum Schlafen, einem einfallsreichen Leitungssystem, das Wasserfälle im Freien anzapfte und das Wasser durch den dicken Stamm herein- und wieder hinausführte, sowie mit einer Toiletteneinrichtung für alle. Aber im Gegensatz zu dem Trog für Waschen, Baden und dergleichen, führte der Toilettenabfluß zu einer Stelle unterhalb des untersten Geschosses, wo ein natürliches System das Abwasser wegfilterte. Die Fäkalien der Awbrier trugen dazu bei, den Baum zu nähren, so daß es sich um ein kluges System handelte, aber die Etage genau darüber wurde dadurch zu einem von Gestank erfüllten Ort — und das war natürlich der Wohnraum für ungelernte und nicht einer Gilde zugehörigen Arbeiterinnen; Yuas Unterkunft.
»An den Gestank gewöhnst du dich«, versicherte ihr Dhutu. »Wenn du eine Zeit hier bist, merkst du ihn gar nicht mehr. Wir haben alle so angefangen. Die meisten deiner Schwestern werden sehr jung und noch keiner Gilde zugeteilt sein — oder sehr, sehr dumm. Du verstehst?«
Yua nickte wenig begeistert.
»Dhutu, etwas ist mir immer noch nicht klar: das mit meiner ›Zeit‹. Zuerst habe ich dich mißverstanden und dachte, du sprichst von der Zeit im allgemeinen. Aber so ist es nicht. Die Alte oben fing auch davon an. Was bedeutet das?«
Dhutu zögerte kurz.
»Am besten erlebst du das selbst. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist einfach deine Zeit, das ist alles. Du wirst schon sehen. Dann brauchst du es dir nicht erklären zu lassen.«
Zufriedenstellend war das nicht, aber trotz ihrer Bemühungen war das alles, was sie erfahren konnte.
Die nächsten Tage vergingen langsam, doch sie erhielt ein wenig Freiheit, um zu sehen, welche Art von Arbeit dazugehörte, einen Baum bewohnbar zu machen, und sie wurde ein wenig in das Leben eingeführt, das hier stattfand. Nur manche der Bäume waren Wohnbäume, riesengroß, mit hohlem Inneren, um ganze Kolonien von Awbriern aufzunehmen; andere boten von sich nichts als flache Äste mit Vertiefungen, in denen der aus gekauter Rinde, Stroh, Insekten und allerhand anderen Dingen hergestellte Dünger, geknetet mit Speichel aus Drüsen, über welche nur die Frauen verfügten, untergebracht war und geschickt mit Saatgut versehen und liebevoll gepflegt wurde, bis irgendwelche Pflanzen darin wuchsen.
Yua machte sich auch immer mehr Gedanken über Obies großen Plan. Sie war sicher, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Sie sollte eine Armee aufbauen und führen oder wenigstens Ansätze dazu unternehmen, unterwegs andere für ihre Sache zu begeistern, und sich schließlich in einem Hex namens Glathriel mit von Marquoz und Mavra Tschang aufgestellten Streitkräften treffen, wo immer die beiden jetzt sein mochten. Aber selbst wenn sie gewußt hätte, wo das war und wo sie selbst sich befand, machte das System von Awbri es ihr praktisch unmöglich, das Verlangte zu tun. Und sie konnte auch wahrlich nicht erkennen, welche Fähigkeiten die Awbrier besitzen sollten. Oder Obie brauchte die Awbrier wirklich aus irgendeinem Grund, als irgendeinen Ausgleich — da war etwa ihr Allesfressertum und das Flugvermögen —, und hatte bei ihrer Verschlüsselung vergessen, das richtige Geschlecht anzugeben. Vielleicht hätte sie ein Awbri-Mann werden sollen. Das hätte mehr Sinn ergeben.
Und die Zeit verrann. In ganz kurzer Zeit würde sich die Flut von Wesen in die Sechseck-Welt ergießen — wenn das nicht schon begonnen hatte. Die Bevölkerung der Sechseck-Welt würde sich verdoppeln, selbst in Awbri. In manchen Fällen würde das bestehende System völlig zusammenbrechen. Vielleicht würde, wenn die Neuzugänge von Olympus die Mehrheit gegenüber der Bevölkerung von Awbri ausmachten, die Revolution von selbst eintreten und sie dann in einer Lage sein, sie um sich zu scharen und zu führen, dachte Yua hoffnungsvoll. Sie konnte nur hoffen und warten, und das mit Ungeduld.
Mehrmals dachte sie an Flucht, aber das schien eine Sackgasse zu sein. Sie allein würde nichts bewegen; jedes Hex war ohnehin wie ein eigener fremder Planet, und sie hatte keine Ahnung, wo auf dieser Welt sie sich befand.
Aber es war trotzdem zum Wahnsinnigwerden, um so mehr, als das Dasein völlig entwürdigend erschien.
Eine Woche nach ihrer Ankunft bekam sie seltsame Gefühle und erlebte fremdartige Träume, die sie mit keiner Wirklichkeit in Verbindung zu bringen vermochte. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Sie fürchtete, daß sie krank geworden war, aber die anderen versicherten ihr, das, was sie erlebe, sei normal und natürlich. Sie nähere sich ihrer Zeit.