Sie drehte sich um und entfernte sich von Fluß und Wasserfall, ging hinunter zu dem kleinen Dorf, von dem sie wußte, daß es da war, der Tatsache eingedenk, daß sie denselben Weg beschritt, den ihr Großvater vor so langer Zeit gewählt hatte, und mit demselben letzten Ziel im Sinn: dem Computer des Schachtes der Seelen selbst. Ihre Großeltern waren mit Brazil dorthin gegangen, wenn auch nicht in eigener Absicht.
Das Dorf stand am Ursprung eines großen Gletschersees, weit entfernt von der Hauptströmung des Lebens in Dillia. Es war verhältnismäßig klein geblieben, noch immer eine Art Wildnis-Siedlung, trotz der inzwischen vergangenen Jahrhunderte — in erster Linie deshalb, weil die Bevölkerung des Hexagons vergleichsweise stabil gehalten wurde. Es gab auf der Sechseck-Welt keine Übervölkerung und deshalb nichts von dem Druck, der schon vor langer Zeit dazu gezwungen hätte, das Land zu entwickeln. Es gab hier auch keine Rohstoffe, die es lohnend gemacht hätten, das Gebiet auszuplündern; Dillia war ein teilweise technologisches Hex, mehr als Dampfkraft war nicht zugelassen, und die Ablagerungen anscheinend unerschöpflicher Kohle- und Rohölvorräte befanden sich weit im Süden.
Was es an Hilfsmitteln hier gab, war für die einheimische Bevölkerung von größerer Bedeutung. In den zahllosen Flüssen, die den See nährten, laichten überall Fische und hatten eine reichgesegnete und sorgsam geführte Industrie hervorgerufen, die in mehr als einer Beziehung die Nahrungsmittel—, Düngemittel- und Ölraffinerie-Industrien andernorts versorgte — Seeab, wie der Rest des Hex bei diesen Leuten genannt wurde. Das und das überreichliche Wild der Wälder oberhalb des Sees waren die Rohstoffe, die hier zählten.
Trotzdem hatte es, wie sie erkennen konnte, seit ihrem letzten Aufenthalt hier Veränderungen gegeben. Das Dorf war größer; in und zwischen den Waldlichtungen schienen mehr Holzhäuser zu stehen, und alles wirkte ein wenig moderner. Fackeln waren ersetzt durch Gaslampen, offenbar versorgt durch einen riesigen Erdgas-Behälter in der Nähe des Sees, der Anschlüsse für Unterwasserzufuhr besaß. Außerdem schien es eine große Zahl kleiner Boote zu geben, die in säuberlichen Reihen rund um den kleinen Hafen verankert waren; fast ein Jachthafen, dachte sie. Auch die Gebäude sahen neuer aus. Wandel trat in den Gebieten der Sechseck-Welt nur langsam ein, war aber trotzdem überall unausweichlich. Immerhin empfand sie darob ein wenig Enttäuschung. Von der persönlichen Ausstrahlung schien etwas verschwunden zu sein.
Ihre Nacktheit störte sie nicht; da das warme Wetter bevorstand, gingen die meisten Zentauren unbekleidet, und nur ihre blasse Haut unterschied sie eigentlich von den mehr wettergegerbten Körpern ringsum.
Sie suchte das Büro des hiesigen Polizisten auf, der einzigen Regierungsgewalt, die es hier oben gab. Es hatte keinen Sinn, unwissend und allein herumzulaufen. Die Leute hier waren stets freundlich gewesen.
Sie konnte die Schilder natürlich nicht lesen, aber nur ein kleines Gebäude, ein Fertigbau, wies an beiden Seiten der Tür amtlich wirkende Siegel auf, Siegel, die nur das Große Siegel des Hexagons sein konnten. Das bedeutete Amtliches, und wenn sie sich nicht grundlegend geändert hatten, war das die Stelle, die sie suchten.
Die Dinge hatten sich verändert, aber das fiel nicht ins Gewicht. Die Stadt hatte sich offenbar eine Verwaltung zugelegt, vor allem, um mit den Touristen fertig zu werden, und das hier war das Rathaus. Ein sehr kleines Rathaus; wenn alle vier Beamten, der Bürgermeister, der Kämmerer, der Schreiber und der Polizist beschlossen hätten, gleichzeitig anwesend zu sein, wäre nicht einmal mehr Platz für Möbel gewesen. Aber das komme nie vor, versicherte ihr die Schreiberin.
Alles verändere sich, aber nicht so gewaltig. Die drei anderen seien auf dem See und fischten.
Die Schreiberin, eine sachliche Frau mit Hakennase und grauweiß gefleckter Körperbehaarung, erwies sich als nett.
»Ich heiße Hovna«, erklärte sie Mavra. »Als wir erfuhren, daß aus Ihrer Gegend des Weltraumes viele Neuzugänge kommen, rechneten wir damit, daß mindestens einer von Ihnen hier auftauchen wird.«
Mavras Brauen stiegen vor Überraschung hoch.
»Oh?«
Die Schreiberin nickte.
»In unserer Geschichte sind viermal Leute aus Ihrer Gegend gekommen, und jedesmal war mindestens einer von euch hier. Muß eine Art Wahlverwandtschaft sein.«
Das interessierte Mavra.
»Sind jetzt noch andere hier?«
»O nein«, erwiderte die Frau lachend. »Das letztemal vor Hunderten von Jahren, lange vor unserer Zeit. Ich glaube, Sie sind überhaupt der erste Neuzugang in meinen Akten, egal, woher.«
Das wird sich bald ändern, dachte Mavra mürrisch. Sie würde die Behörden alarmieren müssen, damit für die Neuankömmlinge zeitweilige Unterkünfte bereitgestellt werden konnten, die dieses schöne und friedliche Land nicht auf den Kopf stellten. Zunächst sagte sie jedoch nur:»Ich freue mich jedenfalls, hier zu sein. Mein Großvater war einmal einer von Ihnen, ganz früher.«
Die Schreiberin zog die Brauen zusammen.
»Großvater? Ich erinnere mich nicht… Wie sollte denn das überhaupt möglich sein? Wenn man einmal hier ist, ist man hier.«
»Nicht, wenn man durch den Schacht der Seelen hinausgeht«, gab Mavra zurück.
Die Schreiberin war offenkundig verwirrt und sagte nur achselzuckend:»Vor meiner Zeit.«
Mavra ging der Sache nicht weiter nach.
»Vorerst brauche ich nur ein paar Tage Zeit, um mich zurechtzufinden. Ich fürchte, ich bin nicht einer Ihrer typischen Neuzugänge — ich habe Dinge zu tun, deshalb bin ich hergeschickt worden.«
»Dinge zu tun?« sagte die Schreiberin verwirrt und warf ihr einen Seitenblick zu, der verriet, daß sie die Neue für geistig aus dem Gleichgewicht geraten hielt. Immerhin gab es für solche Fälle ein amtliches Register, das sie zur Bürgerin erklärte und ihr bestimmte Rechte verlieh, die nicht viel zu bedeuten hatten — aber man regierte hier sehr zurückhaltend. Man nahm lediglich ihren Vornamen auf; die Dillianer verwendeten nur einen Namen und sahen die Notwendigkeit von zweien kaum ein. Zum Glück bestand ihr Name, Mavra, aus Silben, die in der Sprache Dillias gebräuchlich waren und keine Änderung erforderten.
»Oben am See gibt es ein Gästehaus«, erklärte die Schreiberin und kritzelte etwas auf einen amtlichen Briefbogen. »Nehmen Sie das mit, dann bekommen Sie ein Zimmer, bis Sie sich einrichten können. Es ist noch früh in der Saison, also gibt es noch Räume. Sie können dort auch essen, wenn Sie wollen.« Sie schrieb eine zweite Mitteilung. »Und das bringen Sie zum Schmied am Ende der Straße. Hier brauchen Sie Schuhe. Im übrigen ist es Ihre Sache, hier Ihren Platz zu finden. Gibt viel zu tun, wenn es einem hier gefällt und wenn man zivilisiertere Arbeit auf geteerten Straßen haben will, kann man seeab gehen.« Das sagte sie eher verächtlich. Es gab Stadtleute und Landleute, und sie unternahm keinen Versuch, zu verbergen, zu welchen sie gehörte.
Mavra warf einen Blick auf die beiden Briefe.
»Ich bin überzeugt, daß das wunderbar ist«, versicherte sie der Schreiberin. »Ähm… ich kann sie nicht lesen, wissen Sie. Wie soll ich sie unterscheiden?«
Die Schreiberin sah sie reumütig an und malte auf einen der Bogen ein kleines umgedrehtes Hufeisen. Mavra nickte, dankte ihr und ging.
Sie hatte Hunger, beschloß aber, sich in der Stadt umzusehen, bevor sie zum Gästehaus ging. Schuhe… Seltsam, daran hatte sie nicht gedacht. Die Rhone, die Zentauren ihrer früheren Weltraumheimat, hatten hochmodernen Schutz entwickelt, der sie überflüssig machte — aber hier mochten Schuhe eine gute Idee sein. Sie machte sich auf den Weg zum Schmied.