Was mochte sich in ihr verändert haben? fragte sie sich. War es bei den Leuten genauso wie mit diesem Hex, diesem Dorf? Kleine Veränderungen, wenn man älter wurde, während ringsum sich alles bis zur Unkenntlichkeit veränderte? Hatte sie sich so sehr verändert, daß sie nicht mehr über die Mittel verfügte, eine Aufgabe zu bewältigen?
Das war es natürlich. Das Werkzeug fehlte, und es war nicht nur etwas Gegenständliches, sondern auch etwas Geistiges. Extremes Selbstbewußtsein war unabdingbar, aber man brauchte auch das gesellschaftliche Rüstzeug, um von jedem, der notwendig war, zu erhalten, was man von ihm haben mußte. Das war es, was ihr Leben mit Obie ihr genommen hatte: der Instinkt, die Leute wie die Ereignisse nach ihrem Willen zu formen. Sie hatte das nicht gebraucht; Obie hatte alles erreichen können. Sie hatte die Fähigkeit irgendwo verloren und schien nicht herausfinden zu können, wo das gewesen war. Marquoz, etwa — er hatte sie immer noch, hatte sie immer besessen. Der Chugach hatte nicht nur sich selbst fest in der Hand, sondern auch diejenigen um sich herum, so, wie sie das früher auch gekonnt hatte. Und Zigeuner — wer und wo er auch sein mochte —, auch er hatte das. Wo hatten sie es her? Auf jeden Fall waren sie nicht damit geboren worden. Das war etwas, das man erwarb, wenn man aufwuchs — etwas Angenommenes. Und wie verlor man es? Indem man es nicht ständig gebrauchte, so, wie Marquoz und Zigeuner es stets gebraucht hatten.
Sie glich dem großen, bahnbrechenden Kämpfer, dachte sie, der sich mit Gewalt und Tücke an die Spitze gebracht hatte, um dann in einem großen Herrenhaus zu landen, mit allem, was er sich wünschte, versehen. Wenn man ihm das nach vielen Jahren wegnahm, war er verloren. Seine Fähigkeiten waren eingerostet, überholt oder, schlimmer noch, durch lange Jahre des Nichtgebrauchs verkümmert.
Verkümmert. Das beunruhigte sie. Das wilde, raubkatzenartige Wesen Mavra war gezähmt worden, häuslich, dick und faul. Jetzt, da es wieder in die Wildnis geschleudert worden war, entdeckte das verzärtelte Geschöpf, daß diese Wildnis etwas Fremdes war, durchaus nicht mehr sein Element.
Daran war nicht vorbeizukommen, obwohl es ihr schwerfiel, das selbst vor sich allein zuzugeben. Sie brauchte andere Leute nicht nur, sie brauchte Leute, auf die sie sich verlassen, denen sie im Notfall sogar ihr Leben anvertrauen konnte. Vielleicht, wenn sie mehr Zeit gehabt oder die Dinge stärker in der Hand gehabt hätte, wenn sie in der Lage gewesen wäre, den Plan oder den zeitlichen Ablauf nach ihren Bedürfnissen zu verändern, hätte sie mehr von ihren alten Fähigkeiten wiederfinden und in die Wildnis zurücktauchen können, aus der sie gekommen war. Aber das gelang ihr nicht, und die Zeit verrann unwiederbringlich. Ereignisse, auf die sie keinen Einfluß hatte, würden bald Maßnahmen und Gegenmaßnahmen erzwingen, über die sie ein Vorauswissen besaß — ihre stärkste Waffe —, ohne sie aber ändern zu können.
Am Spätnachmittag ging sie am Flußufer entlang und dachte darüber nach, als ein sonderbares, hasenartiges Wesen auftauchte. Seine riesigen Ohren und übertrieben vorstehenden Zähne verliehen ihm ein beinahe komisches, karikaturhaftes Aussehen, das durch einen Blick auf die kraftvollen Beine ausgeglichen wurde. Es war überdies mehr als eineinhalb Meter groß, selbst ohne die Ohren — eine sehr beachtliche Größe —, obwohl die Art harmlos war. Es starrte sie eher neugierig als furchtsam an, und sie starrte zurück. Irgendwo in den Winkeln ihres Gehirns regte sich ein Gedanke und erzwang sich den Weg nach vorn. Das Tier hatte etwas entschieden Seltsames an sich, etwas, das sie nicht ganz unterbrachte, das aber auf irgendeine Weise wichtig zu sein schien. Kurz danach begriff sie, daß das Tier vom Gesicht bis zu den kürzeren Vorderbeinen braun war, darunter das Haar aber langsam schneeweißem Pelz Platz machte. Sie schaute genauer hin und konnte Spuren von vereinzelten weißen Stellen sogar im hellen Braun erkennen.
Sie hatte solche Wesen schon früher gesehen, aber sie waren zumeist ganz weiß oder ganz braun gewesen. Nun wußte sie plötzlich, warum. Weiß war die Winterfarbe. Im Schnee wurden die Tiere dadurch fast unsichtbar. Jetzt, da der Frühling begann und jeder neue Tag ein bißchen wärmer wurde, nahm das Tier eine braune Färbung an, um in dem erblühenden Wald besser getarnt zu sein. Langsam wurde das Weiß verdrängt, während die Jahreszeiten wechselten — und das bedeutete, daß bei der einen von zwei Gelegenheiten im Jahr das Tier sich auf seine Färbung als Schutz nicht verlassen konnte. Jetzt, beim Frühlingsanfang wie später im Herbst, war es eine Zielscheibe. Jagdgruppen kamen inzwischen schon zum See herauf; sie hatte sie gesehen und ärgerte sich darüber, daß ihr der Zusammenhang nicht gleich aufgegangen war.
Die Jagd war bei den Dillianern ein wichtiger Erwerbszweig; die Einheimischen verwendeten Häute und Felle auf vielerlei Art und verkauften das Fleisch an benachbarte Hexagons. Jagdgruppen — zumeist Berufsjäger — bestanden aus harten Leuten, die sich auskannten. Aber die Jagd wurde nicht in Dillia betrieben — sie war nur seeauf möglich, und das Wild dort war reserviert für die Dauerbewohner, damit sie es hegten. Nein, die Jagd von Dillia fand in Gedemondas statt, auf den Bergpfaden.
Sie entschied, daß sie letztlich doch in die Stadt gehörte, diesmal, um einen Weg nach Gedemondas hinein zu erkunden. Was sie von Dillia brauchte, konnte später veranlaßt werden; Gedemondas war entscheidender, vor allem, weil später nicht mehr genug Zeit bleiben mochte, um in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen.
Erste Versuche, sich einer Expedition anzuschließen, brachten Mißerfolge. Obwohl die Jagdgruppen aus Männern wie aus Frauen bestanden, weil die Dillianer, wenn es um Tätigkeiten ging, kaum Unterschiede nach dem Geschlecht machten, war sie zu weich, zu hübsch für sie, als daß man sie ernst genommen hätte. Für sie war das ein frustrierendes Erlebnis. Ihr ganzes Leben lang war sie nicht nur klein, sondern fast winzig gewesen, und auch da hatte man sie nie ernst genommen — bis es zu spät war. Aber jetzt herablassend behandelt und abgewiesen zu werden, weil sie zu attraktiv sei, war ein schwerer Schlag. Nicht daß die Jäger, vor allem die riesenhaften, sich in die Brust werfenden Männer, nicht an ihr interessiert gewesen wären — sie brachten nur vom sachlichen Standpunkt her kein Interesse für sie auf.
Es kam ihr vor, als kehre sie zu ihren Anfängen zurück, als sie, arm und auf einer zurückgebliebenen Pionierwelt festsitzend, Geld, Einfluß und schließlich einen Fluchtweg dadurch gewonnen hatte, daß sie ihren Körper und andere Dienstleistungen verkaufte. Aber jetzt standen die Dinge anders; Dillia besaß gewisse Ähnlichkeiten, jedoch nicht diesen Ausweg — nicht hier und nicht jetzt. Und sie besaß nichts anderes, nicht einmal einen dicken Mantel für die Winterkälte des Jagdgebiets oder auch echte Erfahrung im Umgang mit Waffen. Gewiß, sie kannte eine Laserpistole und ihre Verwandten in- und auswendig, aber hier befand sie sich in einem nur teilweise technologischen Hex, wo außer Explosionswaffen nichts funktionierte, und Gedemondas, das Jagdgebiet, war sogar ein nicht-technologisches Hex, wo man mit Pfeil und Bogen und ähnlichen Waffen tötete, Waffen, die nach einer ständigen Verfeinerung der Geschicklichkeit im Umgang mit ihnen verlangten, von der sie fast nichts besaß, schon gar in diesem neuen, größeren Körper.
Sie ließ sich entmutigen, und einige Versuche sowohl mit dem Bogen wie mit einer Armbrust hatten ihre Stimmung nicht verbessert. Sie ging denkbar ungeschickt damit um.
Trotzdem fuhr sie fort, die immer noch eintreffenden Jagdgesellschaften abzufangen, zu begrüßen und sich mit den Leuten zu unterhalten. Die meisten hatten es eilig, um noch ein bisher nicht beanspruchtes Jagdrevier mit Beschlag zu belegen. Sie standen alle an der Bartheke, und ein Mann, der Anführer einer Gesellschaft, leerte mächtige Krüge Bier und erzählte den Einheimischen von Gedemondas. Die meisten waren nie dort gewesen und würden nie hinkommen; es war selbst für jene, die das Land gut kannten, eine geheimnisvolle und gefährliche Gegend, und was der gesunde Menschenverstand nicht verhinderte, tat der Aberglaube. Trotz der Tatsache, daß die Dillianer über Hexagons und Wesen halb um die ganze Sechseck-Welt sprechen konnten, wußte über ihre unmittelbaren Nachbarn niemand sehr viel. In Zone besetzten sie keine Botschaft, und in den Geschichtsbüchern stand nichts über sie. In geographischen Werken wurden sie als scheue, aber übelwollende Wilde beschrieben, die man nur aus der Ferne erblicken konnte. Dillia hatte keine Erlaubnis, in Gedemondas zu jagen, aber Einwände waren nie vorgebracht worden. Alles zusammen machte das Hex zu einer unheimlichen, abschreckenden Region der Legende.