»Da habe ich mich nützlich gemacht«, erklärte Zigeuner. »Ich habe einen Zwischenaufenthalt eingelegt und Yua erklärt, wie es steht. Sie rückt mit aller Schnelligkeit vor. Es ist riskanter, als es das übermorgen abend wäre, aber die Aussichten für uns sind immer noch gut. Ich bin dafür, daß wir gehen.«
Brazil nickte und blickte zu Asam hinüber.
»Holen Sie Mavra, ja?«
Der Dillianer zögerte einen Augenblick, vielleicht weil er glaubte, wenn sie nicht mitginge, bestünde keine weitere Bedrohung mehr.
»Sie denken jetzt doch nicht daran, die Seiten zu wechseln, Asam, hm?« fragte Marquoz. »Wenn Sie das täten, würden Sie sie ganz gewiß verlieren.«
Der Colonel seufzte und machte sich auf den Weg, um Mavra zu suchen.
Brazil wandte sich an Zigeuner.
»Sie alter Halunke, bevor das alles vorbei ist, müssen Sie mit der Sprache heraus.«
Zigeuner grinste.
»Vielleicht. Bevor es vorbei ist«, sagte er leichthin. »He, Marquoz, es wird Zeit, daß wir uns zusammentun! Wir werden wieder ein Team sein.«
»Möglich«, erwiderte der Hakazit nachdenklich. »Möglich…«
Brazil bewegte sich unruhig.
»Möchte wissen, wo Asam so lange bleibt? Verdammt, wir müssen allerhand vorbereiten, bevor wir uns auf den Weg machen können, und auffallen dürfen wir auch nicht. Zigeuner, können Sie uns Deckung geben?«
Er nickte.
»Kurzzeitig, und mehr brauchen wir nicht. Es ist eine große Armee, eine lange, sehr lange Kolonne. Ich glaube, ich kann ohne Mühe als Brazil da auftreten, wo es nötig ist, und vielleicht gelegentlich auch Mavra sein, wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte.«
»Also gut. Verdammt! Was ist denn da draußen? Ist Mavra auf mich so böse, daß sie nicht zurückkommen will? Oder hat Asam…?«
Sie standen plötzlich alle auf den Beinen und sahen einander nervös und besorgt an.
»Verschaffen Sie sich Tarnung«, sagte Brazil zu Zigeuner. »Wir stellen fest, was los ist.«
Zigeuner schimmerte, veränderte sich, wurde ein Hakazit.
»Das ist ein weiblicher Hakazit«, bemerkte Marquoz belustigt.
»Sie müssen doch auf Ihren Ruf achten«, gab Zigeuner zurück, und sie gingen hinaus.
Sie schwärmten aus und schauten sich im flachen Talgrund um. Tausende von Wesen aus vielen verschiedenen Rassen lagerten dort draußen, die Lagerfeuer erstreckten sich in alle Richtungen, aber von Asam oder Mavra Tschang war keine Spur zu sehen.
Brazil rief seine Menschen zusammen und wies sie an, das Gelände abzusuchen. Zigeuner, als Hakazit getarnt, merkte sich rasch Namen und Gesichter.
Als die Zeit verging und keine Nachricht kam, wandte Brazil sich an Zigeuner und sagte:»Das gefällt mir immer weniger.«
»Mir geht es nicht anders«, erwiderte Zigeuner. »Glauben Sie, bei uns sei es vielleicht schon zu lange gut gelaufen, und die Aussichten verschlechtern sich?«
»Ich fürchte —«, begann Brazil, wurde aber unterbrochen, als einer seiner Menschen etwas schrie. Er lief in diese Richtung, und Zigeuner stampfte hinter ihm her.
Ganz in der Nähe des kleinen Flusses gab es einen Hain. Brazil erreichte den Wasserlauf als erster und bemerkte Marquoz, der am Ufer stand und auf den Schlick starrte. Neben dem Hakazit stand Asam mit hängenden Schultern.
»Mitten in der gottverdammten Armee!« fauchte Marquoz. »Mein Gott! Wir sind viel zu sicher gewesen! Diese Dreckskerle!«
Brazil starrte auf den Schlamm hinunter. Er konnte die Hufabdrucke eines Zentaurs sehen, die am Fluß entlangführten, vorbei an den Bäumen. Ein Teil des Bodens war aufgerissen, und die Hufabdrucke wurden dort zu einem wirren Durcheinander. Sonst waren nirgends Abdrücke zu sehen.
»Verdammt noch mal! Wie reißt man einen fünfhundert Kilogramm schweren Zentaur zehntausend Soldaten unter der Nase weg?« wütete Marquoz.
Asam blickte zu Brazil hinauf. Sein Gesicht war aschfahl, er wirkte tief bedrückt und verwirrt.
»Sie ist fort«, knurrte er ungläubig. »Sie haben sie erwischt.«
Zigeuner kam hinter ihnen heran, blieb stehen und begriff sofort, was geschehen war.
»Ach, Scheiße«, sagten Nathan Brazil und Zigeuner gleichzeitig.
Bache, in dieser Nacht
Sie studierten, bohrten, verhörten und untersuchten bis in die frühen Morgenstunden, ohne jeden Erfolg. Einige Dillianer nahebei glaubten etwas gehört zu haben, ein paar Hakazit erinnerten sich dunkel, in der Luft etwas vorbeifliegen gesehen zu haben, aber in Wirklichkeit hatten alle miteinander nur sehr wenig gehört und gesehen. Wie ihre Anführer fühlten sie sich im eigenen Lager sicher und neigten dazu, jede Art von Lärm oder Unruhe nicht auf sich zu beziehen und schon gar nicht für feindliche Einwirkung zu halten.
»Warum gerade sie?« stöhnte Asam immer wieder. »Warum nicht Sie, Brazil? Auf Sie hat man es abgesehen, nicht auf Mavra.«
»Aber an mich konnte man nicht heran«, erwiderte Brazil. »Es mußte ein kleines Unternehmen sein, vermutlich von nur ein paar Wesen, vor allem solchen, die man auch auf unserer Seite findet, damit sie nicht auffielen. Außerdem ist man in Bedrängnis. Was, wenn man mich gefaßt, ich sie ausgelacht, mich in etwas anderes verwandelt hätte und verschwunden wäre? Wie sähe man dann aus? Nein. Mavra einzufangen, ist eine ganz andere Sache. Die Dillianer betrachten sie als Idol — und Sie, ehrlich gesagt, auch —, so daß das demoralisierend auf Truppen und Befehlshaber wirken muß. Und sie kennen ihre Geschichte — auf jeden Fall von Ortega, wenn nicht aus anderen Quellen. Sie wissen, daß sie mir etwas bedeutet — die einzige Angehörige, die ich habe, könnte man sagen. Es ist möglich, daß man durch die Gefangennahme Eingeweihter in Erfahrung gebracht hat, was ich vorhabe, nämlich darauf zu bestehen, daß sie mit mir durch den Schacht geht. Erpressung, Rückversicherung, ich weiß nicht. Aber es liegt nahe.«
Asam starrte ihn zornig an.
»Und Sie? Was werden Sie jetzt tun?«
Brazil schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, Colonel. Im Augenblick kann ich nichts anderes tun, als unsere Leute zu veranlassen, daß sie sich damit beschäftigen, aber die Zeit wird knapp. Ich muß bis morgen abend entscheiden, soviel steht fest. Ich glaube immer noch, daß ich den Schacht erreichen kann, aber es ist klar, daß sie so etwas nur unternehmen würden, wenn sie schon hierher zielen. Ich kann es mir nicht leisten, abzuwarten, sonst schneiden sie mir den Weg ab.« Er schwieg kurze Zeit. »Ach, verdammt, es ist einfach nicht gut so! Ich will die Verantwortung nicht tragen, die Maschine abzuschalten. All die vielen Wesen… Alle fort, als hätte es sie nie gegeben. Die Großen und die Kleinen, alle miteinander. Ich weiß nicht, ob ich mich dazu überwinden könnte.«
»Dann nehmen Sie jemand anders mit«, antwortete Asam.
Brazil schaute sich um.
»Wer ist noch geeignet? Zigeuner? Er muß hier bleiben, damit die Täuschung wirkt. Sonst bin ich Freiwild. Und ich bin mir auch gar nicht sicher, was er wirklich ist. Vielleicht bedeutet ihm der Rest des Universums überhaupt nichts. Yua? Sie erwartet von mir, daß ich das Universum auslösche und das Paradies erschaffe. Marquoz? Ich glaube eigentlich nicht, daß Marquoz in seinem Innersten für andere etwas übrig hat, Zigeuner einmal ausgenommen. Sie? Aber Sie wissen nicht einmal, was Sie vernichten. Nur Mavra begreift die Verantwortung wirklich.«
Asam blickte streng auf ihn hinunter.
»In Ihrem Namen sind viele gute Leute im Kampf umgekommen. Haben Sie keine Verantwortung ihnen gegenüber?«
Brazil lächelte schief und schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie? Sie begreifen überhaupt nichts. Zivilisationen, zahllose Wesen, Trillionen lebende Geschöpfe, ihre Größe, ihre Gedanken, Ideen und Errungenschaften… für Sie ist das etwas Abstraktes. Nur die wenigen, die hier gestorben sind, sagen Ihnen etwas, weil Sie sie gekannt haben. Die Sechseck-Welt ist zu eng. Es gibt hier keine Michelangelos oder Leonardo da Vincis, keinen Homer, Tolstoi oder auch nur Mark Twain. Keinen Händel oder Beethoven oder Strawinsky. Multipliziert mit all den Rassen im Universum, jede mit ihren eigenen unfaßbaren Schöpfungen. Sie begreifen in Wahrheit gar nicht, was es heißt, das alles auszulöschen.«