Noch ein anderes Gefühl bedrängte ihn, und zwar eines, das sein bewußtes Denken nicht in den Vordergrund treten ließ. Von Anfang an hatte er sich dagegen aufgelehnt, daß Mavra zusammen mit Brazil den Schacht betrat. Im Augenblick hatte er das Gefühl, daß sie ihn liebte, wenigstens auf irgendeine Art. Brazil behauptete aber, sie giere nach Liebe nach dem Vater, den sie nie gehabt, und er sei mindestens das und vielleicht noch viel mehr für sie. Wenn man sie in Ruhe ließ, dann würden sie beide, das wußte er tief im Innersten, den Rest ihres Lebens gemeinsam auf der Sechseck-Welt verbringen; ein schönes, erfülltes Leben. Aber mit Brazil im Schacht blieb die schreckliche, nagende Furcht, daß sie nicht als Dillianerin herauskommen würde — falls sie überhaupt herauskam.
Er dachte an Brazil und an die Sache, für die so viele Wesen aus so vielen Hexagons kämpften. Warum kämpften sie überhaupt? Dumme, irregeleitete Neuzugänge, von denen sogar Mavra zugab, daß sie Produkte eines Kults waren, der an ein falsches Ende für dies alles glaubte; Dillianer, zunächst rachgierig, die ihre Wünsche inzwischen befriedigt hatten und weitermarschieren mußten, und solche wie die Hakazit, denen die Sache nichts bedeutete, die aber kämpften, weil ihnen das Genuß brachte; ein Antrieb, enthalten in ihren erschreckenden Riesengenen.
Und Brazil selbst — ein feiner Gott! Ein gelangweilter, zynischer kleiner Mann, den in Wahrheit nichts und niemand interessierte, und der selbst zugab, daß er weder die Arbeitsprinzipien des Schachts verstand noch etwas anderes tun wollte, als das Universum seinen jetzigen unsinnigen Weg fortsetzen zu lassen oder es nach demselben Muster noch einmal neu zu erschaffen. Er war einfach ein Mensch wie so viele andere, nur machte ihn dieses kleine Wissen zur Zielscheibe solch irregeleiteter Anbetung. Lediglich ein alberner, kleiner Mann, dessen einziges besonderes Merkmal war, daß er viel zu lange gelebt hatte…
Noch tiefer verborgen in Asams Unbewußtem, wo niemand es je zu erkennen vermochte, lauerte das Gefühl, Brazil könnte auf irgendeine Weise sein Rivale sein, könnte Mavra das anbieten, was sie nicht zurückzuweisen vermochte.
Er faßte seinen Entschluß aus, wie er meinte, vernünftigen realistischen Gründen. Er entschloß sich, dann suchte er in der Apotheke nach dem, was er brauchte, erkundigte sich verstohlen nach Mengen und Verträglichkeiten für Glathraeliten und bereitete Mittel und Methoden zur Flucht vor. Wie Mavras Entführer brauchte er fliegende Unterstützung, die leicht zu beschaffen war. Auf diesem Territorium hatte er einen beachtlichen Ruf; er war der Befehlshaber der Truppen, und niemand stellte etwas in Frage, das er unternahm. Vor allem die Jorgasnovarier waren durch Marquoz und die Hakazit zur Mitwirkung bewogen worden, und bei ihnen handelte es sich nicht um Zugänge. Sie waren fremde Wesen, diese fliegenden, fühlerbewehrten Gummibonbons, in einem solchen Maße, daß es ihnen unmöglich gewesen wäre, Brazil aus einer nackten Gruppe von Glathraeliten herauszupicken. Einer erschien ihnen genau wie der andere, und das erwies sich als Vorteil.
Gegen Abend war alles vorbereitet, und wie der Zufall es fügte, hatte Brazil sich in ein kleines Zelt zurückgezogen, um in der Erwartung, die ganze Nacht wach sein zu müssen, ein wenig zu schlafen. Es würde so leicht sein, daß man nur staunen konnte. Asam hoffte nur, daß Sangh das Zeitproblem erkannte und nichts überstürzte.
Er betrat Brazils Zelt und ließ die Klappe hinter sich herunterfallen. Der kleine Mann lag da, mit dem Gesicht nach oben, den Mund geöffnet. Er schnarchte ein wenig. So mühelos, so verwundbar… Und trotzdem zögerte Asam, Liebe und Ehre standen im Widerstreit, Haß und Antlitz von Gunit Sangh schienen ihn zu verhöhnen.
Seine Hände zitterten, als er nach der kleinen Flasche griff und die Spritze mit zwei ccm der klaren Flüssigkeit füllte. Niemand sonst war in der Nähe; in einer Stunde würde es ganz dunkel sein, und seine eigenen Truppen würden eingreifen, unterstützt von passenden Wachwechseln, Nachtmanövern und umgestellten Essenszeiten, für die er untertags gesorgt hatte. Es würde gehen. Lautlos näherte er sich dem Schlafenden, die Spritze in der erhobenen Hand.
»O närrischer Mann!« dröhnte eine Stimme hinter ihm.
Er fuhr herum, die Spritze in der Hand, Brazil schnaubte und fuhr aus dem Schlaf hoch, erstarrte aber, als er die dramatische Situation erfaßte.
Sie waren zu dritt — riesige, zottigweiße Geschöpfe, hier in dieser Atmosphäre ganz fehl am Platze. Asam wußte auf der Stelle, was sie waren; er hatte sich fast sein ganzes Leben lang gewünscht, ihnen zu begegnen.
»Was denn?« fragte Brazil. Er setzte sich auf und rieb seine Augen. »Was soll das, Asam? Und wer oder was seid ihr drei?«
»Er kennt uns«, sagte der riesenhafte Sprecher.
»Ihr — ihr seid Gedemondaner«, krächzte Asam, vor Schrecken und Scham beinahe sprachlos.
Brazil blickte mit ernster Miene auf die verräterische Spritze in Asams Hand.
»Sie wollten mich also verkaufen«, sagte er traurig. »Der große Colonel Asam.«
»Sangh… kam zu mir. Hier. Mitten im Lager. Er kann durch Gestein schwimmen, man ist nirgends vor ihm sicher«, sagte der Dillianer dumpf, wie von einem Traum befangen.
»Er wollte sie lebendig essen, Brazil. Bei lebendigem Leib!«
»Und so einem Ungeheuer wollten Sie vertrauen, daß er sie sicher und gesund herausgibt«, erwiderte der kleine Mann und schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß nicht, ob wir jemals etwas lernen. Asam, vor sehr langer Zeit bat uns auf der Welt meiner eigenen Art ein Mann wie Gunit Sangh um Vertrauen. Wir schenkten es ihm, und er verschlang ganze Nationen, eine nach der anderen, dann richtete er Millionen hin und folterte sie. Es kostete noch einmal Millionen Menschenleben, um ihn endlich zu besiegen — und trotzdem gingen Leute her und taten dasselbe wieder bei anderen Ungeheuern dieser Art. Gerade jemand wie Sie sollte wissen, daß Sangh sein Wort niemals halten würde. Wir haben heute schon darüber gesprochen. Ehre ist ein Fremdwort für ihn — und Sie scheinen in der Lage zu sein, den Sinn dehnbar zu nehmen. Aus Eifersucht wären Sie bereit gewesen, all jene zu verraten, die für ihre Sache gekämpft haben und gestorben sind.«
»Eifersucht? Nein, Brazil! Liebe, ja, aber nicht Eifersucht!« fuhr der Colonel auf.
»So wenig kennen Sie sich also«, meinte Brazil seufzend. »Gut, Asam. Es ist nun einmal geschehen.«
Asam nickte.
»Es ist geschehen. Ich werde Ihnen natürlich nicht länger zur Last fallen. Sie ist jetzt praktisch tot, und ich will sie nicht überleben.«
»O närrischer Mann, sie lebt«, sagte der Gedemondaner.
»Aber wie lange noch?«
»Sie ist durch brutale chirurgische Eingriffe völlig gelähmt worden«, erklärte das zottige Wesen. »Sie wäre, mit Ausnahme von Dahir-Zauberei, für immer ein hilfloser Krüppel gewesen. Sie hätten einen lebenden Leichnam bekommen.«
Colonel Asam ließ die Spritze fallen und begann zum erstenmal in seinem Leben zu weinen. Die Gedemondaner standen ausdruckslos dabei, und Brazil blieb ruhig sitzen und wartete, bis Asam sich ausgeweint hatte. Nach einigen Minuten ließ Asam stumm den Kopf hängen und erwartete das Urteil über sich.
»Mir fällt auf, daß Sie sagen, sie wäre ein hilfloser Krüppel gewesen«, sagte Brazil zu den Gedemondanern, »nicht, daß sie einer ist.«