Der Agitar versetzte ihm ein paar leichte Stöße, um anzuzeigen, daß es Zeit war, wieder zu landen. Brazil wollte es nicht tun, wollte dieses unglaubliche Freiheitsgefühl nicht aufgeben, aber die Sonne stand schon fast über dem Horizont, und die Zeit wurde knapp.
Es gab erneut Unruhe, als der Boden ihm entgegenraste. Die Beine kamen heraus und wurden als eine Art Luftbremse eingesetzt, aber es waren in der Hauptsache die enorm manövrierbaren Flügel, mit denen er die Geschwindigkeit für eine Landung entsprechend herabsetzen konnte. Die Beine bewegten sich nun im gestreckten Galopp, dann setzten zuerst die Vorder—, danach die Hinterbeine auf, die Flügel drehten sich fast seitwärts und brachten ihn mühelos zum Stehen. Obwohl das zu Kopf steigende Gefühl noch eine Weile anhielt, stellte er verblüfft fest, daß er nicht einmal schwer atmete.
Dann war Mavra an der Reihe. Sie verriet ähnliche Unruhe und Nervosität wie er. Er bemerkte manches Unrichtige an Schritt und Ausrichtung und hoffte, daß sie sich so leicht hineinfinden würde wie er.
Er hielt den Atem an, bis sie abgehoben hatte und flog, zu einer erstaunlich stromlinienförmigen Form gelangte und in den Himmel hinaufstrebte. Erst dann ließ er die Luft in einem langen Seufzer hinaus und nickte anerkennend mit dem Pferdekopf. Sie war Pilot wie er, und zum Fliegen geboren.
Schließlich ließ er den Gedemondaner aufsitzen. Das größere Gewicht und die massigere Gestalt erwiesen sich als beträchtlicher Nachteil. Sie machten ihm Sorgen, und einen Augenblick lang fürchtete er, die Kombination werde sich nicht bewähren. Auch der Gedemondaner schien große Ängste auszustehen und brauchte eine Ewigkeit, um sich wieder und wieder zurechtzusetzen.
Diesmal bedurfte es einer sehr langen Galoppstrecke, um abzuheben, und er begann zu keuchen. Die Flügel mußten viel stärker schlagen, um fast das doppelte Gewicht des Agitar zu tragen, und er war erleichtert, als der Gedemondaner, wohl eher aus Furcht als aus Überlegung, sich vorbeugte, Kopf und Oberkörper auf den Sattel und Brazils Nacken legte.
Die Landung erwies sich als ebenso schwierig, und er verlor beinahe das Gleichgewicht dabei, schaffte es aber, kurz nachdem Mavra gelandet war. Nun war ihm eher danach zumute, daß er körperliche Arbeit geleistet hatte, und es wurde ihm klar, daß Mavra und er vermutlich in Abständen von ein, zwei Stunden sich würden abwechseln müssen, damit die Last ausgeglichen wurde.
Sie waren bereit, den letzten Teil ihrer Reise anzutreten.
Es gab eine kurze Verabschiedung, vor allem zwischen dem Gedemondaner und seinen Genossen, die zurückblieben. Sie sammelten sich und flogen hintereinander wieder in den Himmel hinauf. Brazil beschloß, den Gedemondaner so lange wie möglich zu tragen, sowohl, um seine Ausdauer zu prüfen, wie um sich zu vergewissern, daß sie die ganze Strecke zu bewältigen vermochten.
Es ging hinauf, bis sie fast tausend Meter in der Luft waren, dann kreisten sie einmal, warfen einen Blick auf die Szenerie im Norden, beschrieben einen Bogen und flogen nach Südwesten. Beide Armeen waren jetzt sichtbar, kaum einen Kilometer voneinander entfernt, aber beide auf dem Marsch. Er wünschte sich, Gunit Sanghs Gesicht zu sehen, wenn die Truppen über den letzten Hügel gelangten und das Lager verlassen vorfanden — aber seine fliegenden Spione würden ihn wohl bereits unterrichtet haben. Er fragte sich, was der Dahbi davon halten würde und was er dagegen zu unternehmen gedachte.
Sie flogen eine Weile nach Süden, nicht nur, weil das Gelände dort ebener war und sie niedriger fliegen konnten, was leichtfiel, sondern auch, weil sie sich von den Armeen entfernten und, selbst wenn sie bemerkt werden sollten, kaum Verfolgung zu befürchten hatten. Aus der Ferne würden sie als Kuriere erscheinen, kaum einer Verfolgungsjagd wert. Nach ungefähr einer Stunde, als sie sich von den Vorgängen am Boden weit genug entfernt glaubten, flogen sie langsam und vorsichtig zuerst nach Westen und schließlich nach Norden.
Mehrmals begegneten sie neugierigen Wesen, anderen wilden Vögeln oder anderen fliegenden Tieren, die mit Unruhe auf diese seltsam aussehenden Geschöpfe an ihrem Himmel reagierten. Einmal fürchteten sie, von einem riesigen habichtartigen Vogel mit spitzen Krallen und ebensolchem Schnabel und einer Flügelspannweite von mehr als drei Metern angegriffen zu werden, aber nach allerlei Gekreisch und vorgetäuschten Vorstößen hatte er sich abgesetzt, vielleicht, weil sie sein Revier verließen, möglicherweise aber auch deshalb, weil er zu der Entscheidung gelangt war, diese Neuankömmlinge seien einfach zu groß für ihn.
Mit geübtem Auge schätzte Brazil ihre Fluggeschwindigkeit auf ungefähr fünfundvierzig bis fünfzig Kilometer in der Stunde. Auf jeden Fall würden sie ihr Ziel auf diesem Weg nicht vor dreieinhalb bis vier Tagen erreichen.
Er hoffte, das durchhalten zu können.
Nach unruhigem Schlaf in der ersten Nacht und gierigem Grasrupfen von beiden waren sie wieder in der Luft. Diesmal trug Mavra den Gedemondaner, und Brazil empfand große Erleichterung, gedämpft nur durch Mitgefühl bei dem Gedanken an ihre schwere Last. Sie hielt sich aber gut, und auch der Gedemondaner hatte an Erfahrung gewonnen. Sie wirkte ein wenig kräftiger und größer als ihr Partner, was Brazil jedoch nicht im geringsten störte.
Der zweite Tag verging ganz wie der erste, obwohl er das Gefühl hatte, ein wenig zu optimistisch gewesen zu sein, was die zurückgelegte Strecke anging. Vor ihnen erhob sich Hochland und zwang sie, höherzusteigen. Das hieß, daß dieselbe Leistung mehr Arbeitsaufwand erforderte und die Atmung schneller wurde.
Plötzlich, am späten Nachmittag, wurden sie angegriffen. Die Wesen waren riesengroße, langgezogene Scheiben mit vorquellenden Augen und zahllosen schlangenartigen Tentakeln, die aus der Oberfläche ihrer Körper ragten. Sie besaßen keine erkennbaren Köpfe, und es war rasch ersichtlich, daß ihre graue Unterseite in der Hauptsache ein Mund war. Sie zeigten kein Mittel der Fortbewegung, und er vermochte nicht einmal zu vermuten, was sie in der Luft hielt, geschweige denn es ihnen ermöglichte, so abrupt zu wenden, hochzusteigen und hinabzufegen.
Sie reihten sich neben den zwei geflügelten Pferden auf, neun an der Zahl, jedes zwei Meter und mehr breit, an Häßlichkeit nicht zu überbieten, und zwangen sie, unten auf einer Bergebene zu landen. Die Wesen selbst landeten nicht, sondern schwebten zwei Meter in der Luft und betrachteten sie.
»Im Namen des Rates halten wir euch auf und fordern, daß ihr erklärt, was ihr hier zu suchen habt«, sagte der Anführer. Er besaß keinen Übersetzer-Kristall, und seine Worte klangen für sie unverständlich, aber der Gedemondaner schien sie zu verstehen und antwortete in der gleichen Sprache.
Brazil und Mavra Tschang standen zusammen mit dem Agitar Prola dabei, ohne irgend etwas tun oder auch nur erraten zu können. Der Gedemondaner nickte schließlich, und die Wesen erhoben sich in die Luft und fegten davon.
»Eine Streife von Khutirs Armee«, sagte das zottige Wesen. »Ich mußte mir allerhand einfallen lassen, um sie davon zu überzeugen, daß wir unverdächtig sind. Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr mich dabeihabt. Wäre ich nicht in der Lage gewesen, in ihrer Akkokek-Sprache mit ihnen zu reden, dann hätte man uns zu einem Verhör mitgenommen. Fliegen wir weiter, bevor sie es sich anders überlegen.«
Sie starteten wieder, und die drei anderen fragten sich, was der Gedemondaner den Wesen erzählt haben mochte. Brazil nahm sich im stillen vor, mit einem Sprecher der Gedemondaner einmal Poker zu spielen.
Während sie Quilst überflogen, sahen sie wenig von einer großen Armee, was sie ein bißchen beunruhigte. Wo war der General Khutir? War er tatsächlich abgelenkt und so weit fortgelockt worden? Würde es in der Tat so einfach sein?
Andere Wesen stiegen gelegentlich aus verborgenen Vorposten auf, um sie zu überprüfen, aber der Gedemondaner brachte es jedesmal fertig, ihnen Nachteiliges entweder auszureden oder irgendein Zeichen oder eine Parole zu geben, die das Weiterfliegen erlaubten. Der Gedemondaner lachte nur leise, als sie nach seinen Fähigkeiten fragten, und sagte, nein, er könne keine Gedanken lesen, aber schwächere Gemüter dazu veranlassen, ihm mitzuteilen, was er wissen mußte. Das war alles, was sie aus ihm herausbrachten.