Gegen Abend fühlten sie sich alle bedrückt und niedergeschlagen. Sie reihten sich auf, um miteinander sprechen zu können, aber es gab eigentlich nicht viel zu sagen. Alle waren von ihren düsteren Gedanken beherrscht.
Ich habe versagt, schien jeder zu sich selbst oder zu den anderen zu sagen; wir haben versagt. Es ist uns gelungen, alles zu übertölpeln, zu überwinden oder niederzukämpfen, was die Sechseck-Welt uns entgegengeworfen hat, aber jetzt sterben wir, Opfer nicht von Armeen oder feindlichen Plänen, sondern der Natur.
Es wurde dunkel, und sie schlugen für eine weitere einsame, stürmische, kalte Nacht ohne Nahrung und nun auch ohne große Hoffnung ihr Lager auf.
»Wir haben alles versucht«, versuchte Brazil die anderen zu trösten, obwohl er selbst eher Trost brauchte, als ihn spenden zu können. »Wir machen weiter, solange es geht, und dann ist eben Schluß.«
»Ich sehe nur einen Ausweg«, erklärte Mavra. »Morgen in aller Frühe müssen wir, solange wir noch die Kraft haben, versuchen, in die Schlucht hinunterzufliegen.«
»Wie breit ist eine Avenue?« fragte Prola sorgenvoll.
Brazil überlegte.
»Dreißig Meter ungefähr«, erwiderte er. »Die Schlucht ist natürlich etwas breiter, aber wir wissen nicht, wie weit wir segeln und welchen Engstellen wir ausweichen müssen.«
»Unsere Flügelspannweite beträgt ungefähr acht oder neun Meter«, sagte Mavra. »Sehr manövrierfähig sind wir damit nicht — und bei den gefährlichen Auf- und Fallwinden und den Wolken…«
»Es war Ihre Idee, hinunterzufliegen«, gab er zurück. »Versuchen Sie jetzt nicht, mir das wieder auszureden. Das ist das einzige, was wir tun können — und ich habe so wenig Lust dazu, daß ich am liebsten hier erfrieren und verhungern möchte.«
»Also morgen gegen Mittag«, sagte sie resigniert, »wenn wir ein bißchen Sonne haben.«
Sie schliefen in dieser Nacht noch unruhiger. Als der erste von ihnen erwachte und sich umschaute, wurden die Hoffnungen noch mehr gedämpft. Die Wolken waren höher geklettert; die ganze Welt war jetzt ein Meer von wirbelndem Weiß, in allen Richtungen.
Sie aßen ein bißchen Schnee und blieben sitzen, unfähig, sich zu bewegen, bis die Sonne oder der Wind den Wolkennebel verjagte.
»In der Nähe von Avenuen ist das oft so«, sagte Brazil. »Ähnliche Bedingungen entstehen, wenn zwei jahreszeitlich völlig verschiedene Sechsecke aneinandergrenzen, und da draußen ist natürlich eine Grenze, eine mit einem dreißig Meter breiten Streifen dazwischen, der Wind und Wetter aus beiden Sechsecken ausgesetzt ist.«
Sie warteten fast den ganzen Vormittag, aber der Nebel wollte sich nicht verziehen. Brazil winkte schließlich dem Gedemondaner, er möge herankommen und sich ›dazwischenschalten‹, wie er das bezeichnete.
»Mavra — woran haben Sie gedacht?« fragte er leise, um sie abzulenken.
Sie lächelte schief.
»An andere Gegenden. An andere Leute«, erwiderte sie. »Möchte wissen, wie die Schlacht ausgegangen ist. Möchte wissen, wer gewonnen hat. Und ob es überhaupt noch ins Gewicht fällt. Möchte wissen, ob sie sich auf die leere Hülle von Körper gestürzt haben, der zurückgeblieben war, oder ob sie alle irgendwo aufmarschiert sind und aufeinander einschlagen. Es wäre schön zu wissen, was geschehen ist, bevor ich…«
»Sterbe?« ergänzte er. »Haben Sie wirklich Angst davor?«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Ich bin nicht wie Sie, Brazil. Ich glaube, keiner ist das. Ich möchte dieses neue Universum sehen.«
Er zögerte kurz, dann sagte er:»Nun, das verrät mir etwas über Sie, worüber ich mir den Kopf zerbrochen habe.« Er ging nicht weiter darauf ein, aber für ihn klärte das eine lange, strittige Frage. Er fragte sich überlegt, jedenfalls bis zu diesem Augenblick, ob sie in ihrem Dillianer-Dasein glücklich gewesen war oder sich nach Glück gesehnt hatte. Asams Verrat mußte natürlich vieles davon zerstört haben, aber nur im Verhältnis zwischen den beiden. Es wäre jedoch nicht fair gewesen, jemandem solche Dinge anzutun, wie Brazil das tat, wenn der Betreffende in einem anderen Dasein glücklicher gewesen wäre.
Es war so oder so nicht fair, das wußte er, aber sie würde es nicht glauben, bis sie es selbst erlebte.
Der Gedemondaner unterbrach den Kontakt.
»Der Nebel lichtet sich«, sagte er.
Sie schauten sich um und stellten fest, daß das zutraf. Die Sonne war jetzt sichtbar, ungefähr ein Viertel des Weges am Himmel hinaufgekommen, und sie löste mit ihren Strahlen die dünnen, in dieser Höhe eigentlich seltenen Wolken auf.
»Ich glaube, ich sehe einen Gipfel!« rief Prola aufgeregt. »Und da noch einen! Ja! Ich glaube, es klart auf!«
Der Gedemondaner erstarrte plötzlich und sah sich nervös um.
»Ich glaube, da ist nicht alles in Ordnung«, flüsterte er. »Ich spüre, daß andere in der Nähe sind. Ich — ich habe mich durch meine persönlichen Empfindungen beirren lassen«, entschuldigte er sich. »Jetzt kann ich es spüren. Man beobachtet uns!«
Sie spannten die Muskeln an, und der Agitar zog seinen kupfernen, degenartigen Stab heraus, mit dem er Tausende Volt Elektrizität aus einem Körper übertragen konnte. Sie warteten angespannt, um zu sehen, wer diesen Nebel durchdrungen und sie in einer solchen Höhe gefunden haben konnte.
»Hallooooo…!« dröhnte eine Stimme irgendwo links von ihnen, ein Ruf, der zwischen den Felsgipfeln hin und her hallte. »He! Nate! Wo sind Sie?« schrie die Stimme. »Kommen Sie schon — ich habe gewonnen! Ich hab’ Sie erwischt. Sie sitzen fest. Ich hab’ Ihre Herausforderung angenommen und gewonnen, Nate! Ich hab’ gewonnen!«
Brazil machte eine Kopfbewegung, damit der Gedemondaner die Hand auf seinen Kopf legte, so daß er sprechen konnte.
»Hier bin ich!« rief er. »Wie, zum Teufel, haben Sie uns bloß gefunden?«
Eine riesige Gestalt glitt aus dem Nebel und kam vorsichtig heran, In zwei ihrer sechs Hände trug sie eine kleines elektronisches Gerät.
»Das hier ist ein Hochtech-Hex, Nate«, erklärte Serge Ortega. »Haben Sie noch nie was von Radar gehört?«
Über dem Borgo-Paß
Ortega hatte eine größere Truppe dabei, und als sie ihn begleiteten, wurde ihr Umfang deutlicher. Die Soldaten waren gut bewaffnet und mit allem Gerät ausgestattet. Offenbar grub man sich ein.
»Ich muß schon sagen, es fällt verdammt schwer, Sie sich als Pegasus vorzustellen«, sagte der Ulik im Spaß. »Und noch dazu ein pinkfarbener! Du meine Güte!«
Brazil schnaubte lediglich, weil der Gedemondaner als Sprechleitung nur wirkte, wenn sie stillstanden. Er und Mavra konnten nur innerlich wüten und alles hinnehmen; die letzte Hoffnung war zerstoben.
»Der Borgo-Paß«, sagte Ortega. »Die engste Stelle in der ganzen Schlucht, kaum zehn Meter breit und auf beiden Seiten schön befestigt. Wie Sie von oben sehen konnten, muß jeder, der den Äquator erreichen will, die Avenue heraufkommen — und an dieser Stelle vorbei.«
Um den zum großen Teil verdeckten Paß herrschte rege Geschäftigkeit; sie sahen einen fahrbaren Kran, der eine Geschützbefestigung in die Nebel- und Wolkenschicht hinunterließ, überwacht von einer Anzahl kleiner, fliegender Wesen.