Marquoz stapfte in die Dunkelheit davon. Ortega blieb sitzen und starrte in die Schwärze, wartete und versuchte von Zeit zu Zeit einen Blick auf die verschleierten Sterne über sich zu erhaschen.
Die Avenue, an der Äquatorbarriere
Serge Ortega hatte sein Wort gehalten. Obwohl sie an Kampfspuren und gelegentlich an Leichen vereinzelter Späher vorbeikamen, hatten sie auf dem ganzen Weg keinen Widerstand gegen sich. Ein paarmal rutschten sie auf den Geröllfeldern fast ins Wasser, aber das war an Schwierigkeiten alles gewesen.
Mavra hatte die Äquatorbarriere nur aus dem Weltraum gesehen, und sie kam ihr, als sie nun vor ihr aufragte, weniger wie eine dunkle Mauer vor, als sie es aus der Ferne zu sein schien. Teilweise durchscheinend, ragte sie empor, so weit das Auge reichte, ein gigantischer Damm am Ende des Flusses, der hier nur ein Rinnsal war. Sie bemerkte, daß die Stelle, wo die Avenue an die Mauer gelangte, völlig trocken war; offenkundig war das einzige Wasser hier jenes, das an die ungeheure Barriere gelangte und dort herabtroff.
Sie sah aus wie eine riesige, nicht spiegelnde Glasscheibe, nicht besonders dick, und erstaunlich sauber und frei von allen Verschleißerscheinungen. Nur hier, an der Mauer selbst, konnte man die eigentliche Avenue sehen — glänzend und glatt, wie die Barriere selbst. Wo sie auf die Mauer traf, gab es keine Fuge, keinen Spalt; die beiden gingen einfach ineinander über.
Es war am zweiten Tag kurz vor Dunkelwerden, aber selbst Brazil konnte nicht auf der Stelle hineingelangen. Mit Hilfe des Gedemondaners sagte er:»Wir müssen bis Mitternacht Schachtzeit warten, das sind etwas mehr als sieben Stunden nach Sonnenuntergang. Das heißt, wir setzen uns hin und warten ab.«
Mavra blickte die Schlucht hinauf.
»Ob sie wohl noch am Leben sind?« fragte sie.
»Ja«, war alles, was er darauf erwidern konnte. Er wollte es keinem verraten, am wenigsten Mavra, aber er war tief und aufrichtig berührt von dem Opfer, das diese Wesen von vielen Rassen, unter denen ihm manche jetzt viel bedeuteten, brachten. Der Krieg war eher eine Massenangelegenheit, etwas Abstraktes, und in einer Schlacht gab es viele Möglichkeiten. Man konnte siegen oder verlieren, am Leben bleiben oder sterben, aber eine Chance hatte man immer. Die anderen hatten keine, und sie wußten es, taten es aber doch, damit er hier stehen konnte.
Seine Gedanken kehrten wieder einmal zurück zur Alten Erde, ganz besonders zu Masada. Er war nicht dabeigewesen, eigentlich gar nicht sehr nahe, aber die Geschichte des ungeheuren Opfers, das diese Menschen gebracht hatten, die wundersam lange Zeit, die sie durchgehalten, und am Ende ihre völlige Hingabe an die Sache, die den Tod vorschrieb statt der Ergebung in die Tyrannei, hatte ihn in Augenblicken der Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit erhoben. Wenn der Mensch eine solche Flamme in sich trug, gab es Hoffnung.
Es gab wenige solche Beispiele, dachte er traurig, wenige, aber immer das eine, immer zu einer Zeit, wenn man schwören mochte, von Größe sei nichts mehr zu spüren, der menschliche Geist sei erlahmt, alles sei verloren. Dies war ein solcher Augenblick, dachte er. Es mochte lange, sehr lange dauern, bis dergleichen wieder vorkam, aber zum erstenmal vermochte er zu glauben, daß es wieder vorkommen würde.
Der Gedanke verblüffte ihn ebenso wie seine Fähigkeit, ihn nach so langer Zeit überhaupt fassen zu können. Konnte es sein, daß auch seine eigene Flamme nicht erloschen war? dachte er.
Es erstaunte ihn auch, daß sie nur zu dritt waren. Er, Mavra und der Gedemondaner, den sie brauchten, um miteinander sprechen zu können. Er hatte es mehr Leuten angeboten, eigentlich jedem, der mitkommen wollte. Sie hatten es vorgezogen, am Paß zu bleiben. Vielleicht sind sie die Klügeren, dachte er wehmütig. Ihnen war wenigstens die Wahl geblieben.
»Was wird geschehen, wenn wir… hineingehen?« fragte Mavra und blickte wieder auf die scheinbar undurchdringliche Wand.
»Um Mitternacht werden die Lichter für diesen Bereich angehen«, erwiderte er. »Dann wird das Stück um die Avenue verblassen, und man kann ins Innere treten. Dort werden weder Sie noch der Gedemondaner sich verwandeln, aber ich werde es tun. Die Anlage ist für Markovier entworfen worden, wird mich also in einen solchen verwandeln. Sie sind ziemlich häßlich und abschreckend, schlimmer als das meiste, was Sie bisher gesehen haben. Lassen Sie sich davon aber nicht beirren. Das werde immer noch ich sein. Danach fahren wir hinunter zum großen Kontrollraum, ich betätige mich am Sechseck-Welt-System, um es wieder einzuschalten und den Ruf einzuspeisen, dann stellen wir fest, wie groß der Schaden ist.«
»Den Ruf?« wiederholte sie.
Er nickte.
»Ja. Die Bevölkerung in jedem Hex halbieren, die Tore vorbereiten und jene, die wir brauchen, zu den Dingen veranlassen, die getan werden müssen, sobald sie geschehen müssen. Sie werden sehen. Es ist nicht so kompliziert, wie es klingt.«
»Und was ist mit uns?« fragte sie. »Was geschieht mit uns?«
»Sie werden Markovier werden, Mavra«, sagte er. »Das ist aus mehreren Gründen notwendig, und nicht der kleinste davon ist der, daß der Schacht auf das markovische Gehirn eingestellt ist und man ein Markovier sein muß, um zu begreifen, was er ist und leistet. Außerdem bekommen Sie dann ein vollständiges Bild davon, was Sie mir auftragen werden. Das ist das Schlimmste, Mavra. Sie werden genau wissen, wie die Auswirkungen der Reparatur sein werden — falls der Schaden sich beheben läßt. Das werden wir nicht wissen, bis wir im Inneren sind.«
Er erwähnte den Gedemondaner natürlich nicht. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem Wesen anfangen sollte, aber es würde rasch beseitigt werden müssen oder im Weg sein. Eigentlich verdiente es eine Belohnung, aber er wußte noch nicht recht, wie sie aussehen sollte. Die Möglichkeit, daß es einen Gedemondaner mit Zugang zum Schacht gab, erschien nicht gerade erfreulich.
Es war ganz dunkel geworden, und Mavra sagte mit einer Geste zu dem Gedemondaner, aber zu beiden:»Da! Man kann von hier die Sterne sehen.«
Die beiden anderen schauten hinauf, und in der weiten Lücke zwischen dem Ende der Klippen und der Äquatorbarriere waren die Spiralen und spektakulären Muster des Sechseck-Welt-Himmels deutlich sichtbar. Es war der eindrucksvollste Himmel aller bewohnbaren Planeten, den Brazil je gekannt hatte, erfüllt von riesigen Nebeln und leuchtenden Gasen. Der Gedemondaner blickte aber nicht lange hinauf; er kannte das schon zu gut.
Niemand besaß eine Uhr oder konnte angeben, wieviel Zeit verging; sie würden einfach warten müssen, bis das Licht endlich aufflammte.
Ach was, dachte er. Ebensogut konnte er den Gedemondaner gleich fragen.
»Sprecher? Was wünschen Sie sich? Was soll ich für Sie und mit Ihnen machen?«
Der Gedemondaner zögerte nicht.
»Für mich selbst wünsche ich nichts, außer zu meinem Volk zurückgebracht zu werden«, erklärte er. »Für mein Volk wünsche ich, daß du untersuchst, warum das Experiment, das hier gelungen war, draußen scheiterte, und du das Notwendige veranlaßt, damit beim nächstenmal wenigstens erträgliche Aussichten bestehen.«
Brazil nickte. Das hörte sich plausibel an. Er machte sich aber Gedanken über das Wesen, ob es wirklich ganz aufrichtig war. Sehr oft landete mehr als eine Rasse auf einem bestimmten Planeten, sobald ein Muster festgelegt war, manchmal durch Absicht, weil sie etwas beizusteuern haben mochte, ab und zu auch durch Zufall. Völlig exakt lief das Verfahren nicht ab. Den insektenartigen Ivrom etwa war es beim letztenmal gelungen, durch Zufall oder ihre eigene Einwirkung ein paar Brutwesen mit auf die Erde zu befördern, und sie waren zur Grundlage für viele Legenden über Feen, Kobolde und andere schalkhafte Geister geworden. Auch einige von anderen; auf der Alten Erde hatte es einmal eine Kolonie von Umiau gegeben, dort Meerjungfrauen genannt, der Theorie zufolge, daß vielleicht eine zweite Rasse in den Meeren leben konnte, während die erste sich auf dem Land ausbreitete.