Die Rhone — Abkömmlinge der Dillia-Zentauren — hatten schon früh Raumfahrt entwickelt. Eine Forschungsgruppe war auf der Alten Erde abgestürzt, als ihre menschlichen Bewohner sie noch für eine flache Scheibe auf dem Rücken einer Schildkröte oder dergleichen gehalten hatten, und es war ihnen gelungen, dort zu überleben, verehrt sogar von manchen primitiven Menschen als Götter oder gottähnliche Wesen. Für die rohe Barbarei der Erde waren sie jedoch zu weise und zu friedlich; man hatte sie schließlich gejagt und ausgerottet. Er selbst hatte dafür gesorgt, daß ihre Überreste zerstört wurden und bis auf die Legende davon, was der Mensch den großen Zentauren angetan hatte, nichts blieb. Aber als die Rhone, ins Unglück geraten, den Weltraum zuerst verloren, dann wiedergewannen und die von Menschen bewohnten Bereiche erneut erforschten, hatten sie auf irgendeine Weise vom Schicksal der frühen Forscher erfahren. Die Menschen waren in ihren kollektiven Alpträumen aufgetaucht, lange vor der dauerhaften Entdeckung, und das hatte sie von der Menschheit ferngehalten, obwohl sie zur praktischen Partnerschaft bereit gewesen waren.
Was die Gedemondaner anging, so gab es Legenden sowohl auf der Heimatwelt der Rhone wie auf der Alten Erde, von riesigen menschenartigen, geheimnisvollen Wesen, die sich im höchsten Gebirge und in der fernsten Eiswüste herumtrieben, während der ganzen Geschichte den technologischen Menschen meidend, abgesehen von kurz erhaschten Blicken, Legenden, halb geglaubten Geschichten. Waren einige davon, die Yeti, die Sasquatch und andere, wirklich die weiterentwickelten Nachkommen von Gedemondanern, die aus irgendeinem Grund auf den falschen Planeten geraten waren? Er fragte sich das selbst.
Die Zeit schleppte sich hier am Äquator, an der Avenue mühsam dahin. Mehr als einmal hatte der eine oder andere von ihnen das Gefühl, es müßten mehr als sieben Stunden vergangen sein, sie hätten den Augenblick entweder verpaßt, oder dieser Zugang funktioniere nicht, oder irgendein anderes Problem sei aufgetaucht.
Das Warten war das Allerschlimmste, entschied Mavra.
Plötzlich sagte der Gedemondaner:»Ich spüre, daß jemand in der Nähe ist.« Seine Stimme klang besorgt.
Brazil und Mavra schauten sich in der Dunkelheit um, konnten aber nichts Ungewöhnliches sehen oder hören. In beiden lauerte die Angst, daß die bewaffnete Truppe sie im letzten Augenblick einholen würde, daß Serge Ortega und seine Leute den Borgo-Paß nicht lange genug hatten halten können.
Der Gedemondaner spürte ihre Angst.
»Nein. Nur drei. Sie scheinen rechts von uns zu sein. Es ist sehr merkwürdig. Sie scheinen im massiven Fels zu sein und schnell auf uns zuzukommen.«
Mavras Kopf zuckte hoch.
»Es sind die Dahbi!« sagte sie scharf. »Sie können das!«
»Ich habe den Kerl schon zum zweitenmal unterschätzt«, knurrte Brazil. »Während Serge und seine Leute die Armee aufhalten, umgeht Sangh den Paß auf die einzige Weise, zu der er imstande ist. Der Hinterhalt im Paß hat ihm verraten, was er wissen wollte — daß wir hier sind. Wenigstens kann er auf diesem Weg keine Waffen mitnehmen.«
»Er braucht sie nicht«, gab sie zurück. »Die Vorderbeine sind wie Schwerter, die Kiefer wie Schraubstöcke. Und wir haben auch keine Waffen.« Sie schaute sich um. »Und können nirgends hin.«
»Außer hinein«, sagte er seufzend. »Aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen.«
Der Gedemondaner drehte sich um und starrte auf eine Felswand, keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt. An drei Stellen wurde es im Gestein heller. Sie sahen entsetzt und gebannt zu, wie drei geisterhafte Wesen aus dem Granit quollen, sich zu verfestigen schienen und vor ihnen standen, ein riesiges vor ihnen, zwei etwas kleinere dahinter, gespenstischen Laken mit zwei schwarzen Ovalen als Augen gleichend.
Brazil glotzte sie an. Das sind also die Dahbi, dachte er. Er erinnerte sich undeutlich an sie. Auch hier Legenden und Kollektiverinnerung. Und der Große in der Mitte mußte -»Nathan Brazil, ich bin Gunit Sangh«, sagte der Anführer. »Ich bin hier, um Sie zurückzuholen.«
Brazil wollte vortreten, um mit dem Gedemondaner Körperberührung herzustellen, damit er antworten konnte, aber der Gedemondaner beachtete ihn nicht und trat auf den Dahbi-Anführer zu.
»Sie haben verloren, Sangh«, sagte der Gedemondaner mit einer fast perfekten Nachahmung von Brazils Stimme und Aussprache. »Selbst wenn wir jetzt mit Ihnen zurückgingen, steht unsere eigene Truppe hinter der Ihren am Paß. Es mag sein, daß Sie durch Wände gehen können, aber mich können Sie da nicht mitnehmen.«
»Das brauche ich nicht«, erwiderte Sangh zuversichtlich. »Wir nehmen Sie als Geisel mit und gehen durch den Paß zu meinen eigenen Truppen, die ihn inzwischen besetzt haben werden. Dann brauchen wir ihn nur zu halten, bis der Rest meiner Armee nachrückt, um uns abzuholen. Ihre armselige Streitmacht dazwischen kann nicht viel ausrichten. Bedenken Sie, wie gut Ihr kleiner Trupp den Paß bis jetzt gegen uns hat halten können.«
Mavra und Brazil hoben die Köpfe. Der Paß wurde also immer noch gehalten!
»Ich stehe hier vor dem Schacht«, erwiderte der Gedemondaner drohend. »Sie kennen die Regeln, Sangh. Ich kann nicht getötet werden und gebe mich nicht gefangen.«
»Ich habe genug«, seufzte Gunit Sangh gereizt. »Packt ihn!«
Die kleineren Dahbi klappten auseinander und gingen auf den Gedemondaner los, der sie ruhig erwartete. Klebrige Vorderbeine, von denen etwas Grauenvolles troff, griffen nach dem riesigen Pelzwesen, und an den Beinen entlang blitzten die Natursäbel der Dahbi. Das Vorderbein des Wesens links vor dem Gedemondaner berührte das Geschöpf, das hingriff und es unerwartet mit der linken Hand packte. Es gab einen grellen Blitz von blauweißem Feuer, das den Dahbi einzuhüllen schien, eine Supernova, die für Sekundenbruchteile aufgleißte und wieder erlosch.
Der Gedemondaner nutzte die Betäubung des anderen, drehte sich herum, griff mit der rechten Hand hin und packte das Vorderbein des zweiten Dahbi, bevor er es zurückziehen konnte. Wieder das Aufflammen, und als es dunkel wurde, war von dem Dahbi nichts mehr zu sehen.
Gunit Sangh hatte kein so hohes Alter, keine so hohe Stellung erreicht, ohne Mut und rasche Reflexe zu besitzen. Er stürzte vor, sein Vorderbein schnellte herum und schnitt dem Gedemondaner mit einem Hieb den Kopf ab.
Aus dem körperlosen kopflosen Körper spritzte Blut auf das makellos weiße Fell, und das Wesen tappte wie noch lebend vorwärts, als Sangh mit einer schier unvorstellbaren Schnelligkeit sich dem geköpften Geschöpf entzog.
Die Arme des Gedemondaners streckten sich, er machte noch ein, zwei Schritte, dann erzitterte er und brach zusammen, zuckte noch kurz und erschlaffte am Boden. Die gespeicherte Energie im Körper flammte auf, eine neue grelle Nova, und es war vorbei. Nichts blieb übrig als das Blut und der abgetrennte Kopf, der mit glasigem Blick vom Avenue-Boden heraufstarrte.
Gunit Sangh war offenkundig tief betroffen. Sein Gehirn schien fieberhaft zu arbeiten. Es war Brazil, aber jetzt tot, und Brazil konnte nicht sterben, also konnte es nicht Brazil gewesen sein, aber wenn er es nicht war, wer war dann Brazil…?
Er blickte wieder zur Äquatorialbarriere. Da standen zwei von den fliegenden Pferden, auf denen Agitar zu sitzen pflegten. Was…? Und warum zwei?
Es traf ihn beinahe wie ein körperlicher Schlag. Mavra Tschangs Katatonie, Brazils starrer Körper, die ganzen Zaubertricks, die sie vorgeführt hatten.
Dann lachte Gunit Sangh, lachte so laut, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte. Er blickte auf die beiden geflügelten Pferde und sagte:»So, so. Der echte Nathan Brazil, nehme ich an. Und wen haben Sie dabei? Kein echtes fliegendes Pferd, würde ich sagen. Nein, könnte es sein, daß ich auch die auf geheimnisvolle Weise verschwundene Mavra Tschang gefunden habe? Ah? Ein Zucken des Wiedererkennens! Ja, wahrhaftig.« Er lachte wieder auf. »Ich habe gewonnen!« rief er. »Im allerletzten Augenblick, aber ich habe gewonnen!«