Sie fuhren in unheimlicher Stille weiter, während vor ihnen Lichter aufflammten und hinter ihnen die anderen erloschen. Der Gleitweg selbst leuchtete, so weit sie hinausblicken konnte, obwohl keine Lichtquelle erkennbar war. Sie bemerkte, daß der Gleitweg schneller wurde und sie jetzt nicht nur vorwärts, sondern auch hinabfuhren, in die Tiefen des Planeten hinein. Sie gelangten in eine schwach beleuchtete Kammer, und unter ihnen wurde ein von Licht umrandetes großes Sechseck sichtbar.
»Das ist das Zugangstor vom Schacht«, sagte er. »Eigentlich nur eines von sechs. Es kann dich hinführen, wohin du auf der Sechseck-Welt oder im Schacht willst. Wir gehen zum großen Kontrollraum und zu den Überwachungsstationen. Ich muß zuerst alles überprüfen und feststellen, ob alles wie geplant ablaufen wird, und dann natürlich klären, wie stark der Schacht beschädigt ist. Vielleicht hat Obie sich geirrt, und wir brauchen nichts Drastisches zu tun.«
Er stieg vom Gleitweg, als er das Sechseck erreichte, und trat hinein. Sie zögerte kurz, dann folgte sie ihm. Alles Licht verschwand, und einen Augenblick lang glaubte sie zu fallen, dann war die ganze Welt plötzlich wieder von hellem Licht überflutet, und sie stand abermals auf festem Boden.
Es war eine riesige Kammer, vielleicht einen Kilometer im Durchmesser weit, halbkreisförmig, und die Decke wölbte sich hinauf und über ihnen. Hunderte von Korridoren führten in alle Richtungen. Das Tor befand sich in der Mitte der Kuppel, und Brazil trat rasch hinaus, gefolgt von Mavra, die nervös war, weil sie befürchtete, das Tor könnte sie an irgendeinen entlegenen Ort des Komplexes befördern, wo man sie nie mehr finden würde.
Wände, Decke, sogar der Boden, alles schien aus winzigen, sechseckigen Kristallen aus poliertem weißem Glimmer zu bestehen, die das Licht zurückwarfen und wie Millionen Diamantensplitter glitzerten.
Brazil blieb stehen und zeigte mit einem Tentakel über die Schulter zum Tor. Von Kraftfeldern gehalten, mitten zwischen Tor und Kuppeldach, schwebte ein riesiges Modell der Sechseck-Welt, das sich ganz langsam drehte. Es besaß eine Tag/Nacht-Grenze, war auf der einen Halbkugel dunkel, und schien aus demselben Material wie die Wände zu bestehen, obwohl die Sechsecke an dem Modell sehr groß waren und es an den Polen dunkle Stellen und ein dunkles Band rund um den Äquator gab. Die Kugel war bedeckt von einer dünnen, durchsichtigen Schale, die ebenfalls in Abschnitte aufgeteilt zu sein schien. Die durchsichtigen Sechsecke paßten genau auf die darunterliegenden.
»Es sieht nicht so hübsch aus wie die echte Welt vom Weltraum aus«, meinte Mavra, »aber eindrucksvoll ist es doch.«
»Man sieht die kleinen Unterschiede in zurückgespiegeltem Licht auf jedem Sechseck«, erklärte er. »Das ist markovische Schrift. Die Nummern gehen von 1 bis 1560, in einer Mathematik, die auf der Sechs beruht, versteht sich. Die Ziffern sind aber nicht in irgendeiner Reihenfolge angebracht, weil hier über eine Million Rassen geschaffen wurden, und nur die letzte Gruppe, die letzten 1560, verblieben ist. Sobald eine Rasse gebilligt wurde, nahm man sie heraus, baute das Rechteck für den neuen Versuch um und teilte eine neue Ziffer aus den geleerten Sechsecken zu. So kann Glathriel Nummer 41 sein und Ambreza, gleich daneben, 386. Ein bißchen unübersichtlich, aber es spielte ja keine Rolle.«
»Sehr eindrucksvoll und dekorativ«, erklärte sie lobend.
Er lachte.
»Ach, das ist nicht nur Dekoration. Das ist das Gehirn, das die Sechseck-Welt betreibt. Das Arbeitsmodell für den Schacht der Seelen. Eigentlich das Herz des Ganzen, weil es auch die Hauptenergiequelle für den Schacht ist und die Grundgleichungen liefert, die nötig sind, damit die Welt richtig funktionieren kann. In gewissem Sinn ist das ein gigantisches Computerprogramm. Es bezieht seine Energie aus einer Singularität, die bis in ein Alternativ-Universum reicht. Wenn der Schacht nicht leicht zu reparieren ist, müssen wir ihn von dort ablösen. Das wird sich auf die Sechseck-Welt nicht auswirken, aber alle Programme im Schacht selbst löschen. Wenn wir den Anschluß wiederherstellen, nimmt er alles auf, als handele es sich um völlig neue Daten. Da das langsam und stufenweise zugeführt wird, wartet das Programm, wenn es beschädigte Bereiche findet, und es setzen Notprogramme ein, um das zu reparieren oder zu ersetzen, was nötig ist.«
»Sie können es nicht nur bei den beschädigten Stellen abschalten?«
»Nein. Das wäre eine gute Idee und theoretisch vielleicht sogar ausführbar, aber wir brauchten hier das gesamte Computerpersonal der Markovier, um das zu bewältigen. Es würde bedeuten, daß alles völlig neu programmiert werden muß — also ein neues Programm zu schreiben ist. Das kann man bei der Sechseck-Welt tun, aber nicht bei dem großen Computer, weil sie nie geglaubt haben, das müßte ein zweitesmal geschehen.«
»Wir werden also mehr oder weniger in der Zeit zurückgehen, die Bedingungen wiederherstellen, die existiert haben, kurz bevor der große Computer eingeschaltet wurde, und dann praktisch wiederholen, was sie getan haben«, sagte sie, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
»Richtig. Und die Eigenreparatur- und Korrektur-Schaltungen werden sich mit dem Schaden befassen. Sie sind eingebaut worden, weil niemand wußte, ob wirklich alles hundertprozentig in Ordnung war, ob man nicht irgendeinen Fehler bei der Konstruktion oder beim Bau gemacht hatte. Das Programm ist deshalb selbstkorrigierend; wenn es auf eine Stelle trifft, die nicht korrekt ist, verändert es sie so, daß sie dem Programm entspricht.«
»Und was machen wir zuerst?« fragte sie.
Er lachte wieder.
»Zuerst gehen wir durch diesen Korridor da. Es gibt einen großen Kontrollraum, nicht weit von hier — alle Korridore führen zu Kontrollräumen, für jede Rasse, die von hier ausgeschickt wurde, einer.« Wieder ging er voraus, und sie folgte ihm.
Sie erreichten eine sechseckige Tür, die sich wie eine Iris öffnete, und im Inneren wurde es hell. Sie sahen eine Art Kontrollraum mit vielen Schaltern, Knöpfen, Hebeln, Tasten und dergleichen, und mit einem großen, schwarzen Projektionsschirm, Riesige Skalen und Meßinstrumente zeichneten auf; sie wußte nicht, was; es gab keine Möglichkeit, sich darüber klarzuwerden, was irgendeine der Anlagen leistete.
Ein Tentakel berührte eine kleine Tafel an einer Steuerkonsole und schaltete ein Gerät ein, das ein Sichtschirm zu sein schien, in Wirklichkeit aber ein versenkter ovaler Tunnel war, hineinreichend, so weit man blicken konnte, ein gelblichweißes Licht mit Milliarden winziger schwarzer Punktchen. Zwischen allen schossen starke kleine Stromblitze oder ähnliches hin und her, einen heftigen Energiesturm erzeugend, ein zuckendes Spinnengewebe belebter Energie.
»Zuerst kommst du dran«, murmelte Brazil.
Man hörte plötzlich das Geräusch einer mächtigen Pumpe tief im Inneren des Planeten oder das Schließen und Öffnen eines Relais. Es klang beinahe wie das schlagende Herz eines gigantischen Tieres.
»Ich steigere nur die Energiezufuhr«, erklärte er. »Keine Angst. Die Skalen, Schalter und so weiter hier sind Steuerelemente für die Mechanismen. Kleinere Arbeiten wie die kann ich ohne Steuerung ausführen, aber später werden wir sie brauchen. So, das müßte genügen.«
Im ganzen Kontrollraum war ein gleichmäßiges, alles durchdringendes Pochen zu hören.
»Gut, großer Kontrollraum volle Energiezufuhr«, murmelte er vor sich hin. »In… Betrieb!«
Die Welt schien rings um Mavra zu explodieren. Das Gesichtsfeld erweiterte sich auf fast 360 Grad, Gehör, Geruch, alle Sinne schnellten zu einer neuen Intensität hinauf, wie sie das noch nie erlebt hatte. Sie konnte die Energien ringsum fühlen und wahrnehmen, die ungeheuren Spannungsanstiege spüren, die plötzlich so greifbar waren, daß es schien, als könnte sie die Hände ausstrecken und sie festhalten, sie drehen und wenden, wie sie wollte. Es war ein ungeheures, berauschendes, zu Kopf steigendes Gefühl, ein Auffluten von Kraft und Macht ohne Grenzen. Sie war Superfrau, sie war eine Göttin, sie war das Allerhöchste…