Sie richtete ihre neuen Sinne auf Brazil und sah nicht länger das häßliche, mißgestaltete Wesen, das er geworden war, sondern einen gleißenden Strahl schier unerträglichen Lichts, eine hochragende Gestalt von fast unfaßbarer Schönheit, Kraft und Energie.
Sie griff nach ihm, nicht mit ihrem Körper, sondern mit ihrem Denken, und er schien zu antworten mit einem Strom wissender Energie, begegnete ihr und verschmolz mit ihrer Ausstrahlung.
Dann zuckte sie einen kurzen Augenblick zurück oder versuchte es zu tun. Die ersten Empfindungen, die sie von ihm erhielt, waren nicht die eines gottähnlichen Geschöpfes gewesen, das er ohne Zweifel war, sondern sie vermittelten eine unfaßbar tiefe, qualvolle Einsamkeit, so schmerzhaft, daß sie kaum zu ertragen war. Mitleid überwältigte sie, und sie trauerte darum, daß solche Größe so viel Elend und Qual zu tragen hatte. Die Tiefe des Elends war so unermeßlich wie seine gottgleiche Größe und Macht, so stark, daß sie davor zurückscheute, wieder hinauszugreifen, Verbindung herzustellen, aus Angst, die grauenhafte Qual könnte sie vernichten. Da weinte sie um Nathan Brazil, und im Weinen begriff sie endlich die Wesenstragik in ihm.
»Hab keine Angst«, sagte er leise, sich wieder darbietend. »Ich habe es jetzt besser in der Hand. Aber du mußtest es wissen. Du mußtest begreifen.«
Zögernd griff sie wieder hinaus, und diesmal war es erträglicher. Aber es war ein viel zu großer Teil von ihm, um ganz verdrängt zu werden; es durchtränkte sein ganzes Wesen, das Innerste seiner Seele, und selbst der Anhauch war beinahe zu vernichtend.
Nun begann er zu sprechen. Nein, nicht zu sprechen, zu übertragen, direkt auf sie, mit der Schnelligkeit seines Denkens, das gesammelte Wissen von Nathan Brazil über das Funktionieren des Schachtes der Seelen, die Markovier-Physik, die Geschichte der Experimente, alles über Gesellschaft, Unternehmen und Ziele der Markovier. Und sie begriff, was er mit ihr getan hatte, erkannte zum erstenmal, daß auch sie eine Markovierin war und, was die reinen Erkenntnisse über den Schacht betraf, ihm gleichgestellt. Erkenntnisse, ja, aber keine Erfahrung, niemals Erfahrung. Denn die Erfahrung war untrennbar verwoben mit der grauenhaften Qual, die er durchlitt, und vor der er sie schützte, so gut er konnte.
Endlich war es vorbei, und er zog sich aus ihr zurück. Sie wußte nie genau, wie lange es gedauert hatte; einen Augenblick, eine Million Jahre, man konnte es nicht sagen. Aber nun kannte sie sich aus, wußte, womit er sich auseinandersetzen mußte, begriff, was ihr bevorstand, und wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie begriff auch, daß er, um sie zu einer Markovierin zu machen, sie unmittelbar in den Primärcomputer eingespeist hatte, in das große Computerprogramm selbst. Sie war jetzt wie er und würde es bleiben, bis sie selbst die Daten im Supergehirn der Markovier löschte.
»Ich möchte, daß du kurze Zeit hier bleibst, bevor wir weitermachen«, sagte er. »Überprüf die Kontrollräume, lies die Meßergebnisse ab, sieh dir den Schacht der Seelen und das, was er hervorbringt, an. Bevor wir abschalten, mußt du wissen, was du zerstörst.«
Sie kannte die Regler nun, wußte sie zu gebrauchen. Langsam betrachteten sie gemeinsam das Universum.
Die Anlagen waren unfaßbar komplex und sprachen zu ihrem neuen Markovier-Gehirn mit seiner scheinbar unbegrenzten Aufnahmefähigkeit für Daten und ihre blitzschnelle Verarbeitung, so daß es leichtfiel, das Bekannte und das Unbekannte zu überblicken. Die Zeit verlor jeden Sinn für sie, und sie begriff, daß sie an sich keinen besaß, jedenfalls nicht für einen Markovier. Der Begriff allein war nicht mehr als ein mathematischer Behelf, anwendbar nur für einzelne umgrenzte Bereiche zu Meßzwecken. Sie hatte für sie beide keine Wirkung und damit keinen Sinn mehr, jetzt nicht mehr.
Sie sah Rassen, die quälend vertraut erschienen, und Rassen, fremdartiger als alles, was sie je gekannt oder erlebt hatte. Sie sah auch solche, die sie kannte: die Dreel, die dies alles ausgelöst hatten, die Menschheit, die Rhone, die Chugach und alle anderen. Es gab auch noch mehr, eine unglaubliche Zahl von ihnen, so viele einzelne denkende Wesen, daß es bedeutungslos wurde, sie aufzuführen.
Aber sie waren das Leben. Sie wurden geboren und wuchsen auf, lernten und liebten, und wenn sie starben, hinterließen sie ihren Kindern und diese den ihren ein Vermächtnis. Vermächtnisse der Größe, Vermächtnisse von Niedergang und Tod, Dinge, die ebenso herrlich wie grauenhaft waren, und das oft zur gleichen Zeit. Was sie sah, war Geschichte und Vermächtnis des markovischen Menschen.
Aber es gab Bereiche rund um den großen Kontrollraum der menschlichen Sechsecke, die zerstört oder ausgebrannt waren. Andere Abschnitte hatten umgeschaltet, darum bemüht, die Leistung mit zu übernehmen, aber die Belastung war zu groß für sie, und auch sie brannten aus und vergrößerten die Beanspruchung der anderen noch mehr. Im Schacht der Seelen wucherte ein Krebs, den er selbst nicht mehr aufzuhalten vermochte, und er wuchs weiter. Mit ihm dehnte sich der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum aus, schneller, immer schneller. Sie begriff, daß das Weltraumgebiet, aus dem sie kam, in einem relativen Augenblick verschwunden sein würde, und dann mußte sich der Defekt immer weiter ausdehnen.
Obie hatte recht gehabt, begriff sie. Während Abschnitte, die für andere Teile des Universums zuständig waren, die zunehmende Beanspruchung durch die aufschießende Flut des Nichts zu tragen hatten, fanden Zusammenbrüche immer rascher statt, in einer gefährlichen Progression.
Der Schacht konnte das Universum vernichten oder heilen, aber nicht sich selbst retten. In diesem Augenblick war fast ein Sechstel der in Betrieb befindlichen Kontrollzentren zerstört, ausgebrannt, nicht mehr wiederherzustellen. Sobald ein Drittel der Kapazität erreicht war, würde der Schacht nicht mehr in der Lage sein, den Ausfall auszugleichen; aber er würde es verzweifelt versuchen, bis es den letzten, nicht mehr gutzumachenden Kurzschluß gab. Der Schacht brauchte Hilfe und brauchte sie rasch, sonst konnte er nicht Bestand haben, nicht überleben. In gewissem Sinn war er selbst ein lebender Organismus, begriff sie, und der Krebs schritt unaufhaltsam gegen sein Herz vor. Der letzte Kurzschluß würde eine schützende Stillegung durch das Hauptprogramm und die Energiequellen auslösen, damit diese sich selbst zu retten vermochten, aber dann würde es zu spät sein, die Fähigkeit der kleineren Anlage instand zu setzen oder auszuwechseln. Im ganzen Universum würde nur die Sechseck-Welt bleiben, für immer und ewig, nur sie und nichts sonst.
Aber Mavra verstand auch Brazil. Die tiefe Qual, mit der er lebte, ein Gott, für immer von seinesgleichen abgeschnitten, weil er jm ganzen Universum, vielleicht in allen Welten, die es jemals geben konnte, einzigartig war, dazu verurteilt, auf der Erde und zwischen den Sternen zu wandern als einer, der niemals sterben, sich niemals verändern, nie Gesellschaft finden konnte, aber auch ein Mann, der fühlte, daß er eine geheiligte Aufgabe erfüllen mußte.
Hier konnte er auch diese zahllosen denkenden Wesen fühlen und sehen und kennen, deren ganze Geschichte ausgelöscht werden würde, die, wenn die Reparaturen vorgenommen werden sollten, nicht einmal eine Erinnerung sein würden.
»Das ist nicht das erstemal, daß das geschieht, nicht wahr?« fragte sie.
»Nein«, gab er zu. »Dreimal weiß ich es. Kannst du verstehen, wie schrecklich schwer es für mich ist, einfach abzuschalten?«
»Dreimal…«, wiederholte sie staunend. Dreimal in den Schacht der Seelen, dreimal das Massaker an so vielen, vielen Unschuldigen, die nichts Schlimmeres getan hatten, als zu leben.
»Und dreimal bist du es gewesen?« fragte sie.
»Nein«, gab er zurück. »Nur das letztemal. Ich bin auf einer jetzt toten Welt geboren, in einem Volk, das längst tot und jeder Erinnerung entrückt ist, aber diese Welt glich sehr der Alten Erde. Es war eine Theokratengruppe, die für ihre Religion und ihren Glauben lebte und dafür auf die uralte Weise litt, wie solche Wesen durch andere leiden müssen. Ich wuchs darin auf und wurde selbst ein Geistlicher, ein religiöser Lehrer und Fachmann, ein religiöser Führer, könnte man sagen. Ich war unter meinesgleichen sehr berühmt dafür. Ich hatte eine Frau und sieben Kinder, drei Jungen und vier Mädchen — Menschen vom Typ 41, keine ausgefallenen Formen. Nun, in der Nähe entstand eine andere Religion, die Bekehrung durch Gewalt vertrat, und da die Gesellschaft inzwischen hochtechnologisch und fortgeschritten war, wurden wir aufgespürt, als dieser technokratische Glaube unser Land erfaßte, aufgespürt und bekehrt oder getötet. Obwohl ihre Religion eine Abwandlung der unsrigen war, trauten sie uns nicht. Wir waren eine kleine verschworene geheime Gruppe und suchten nicht einmal Anhänger. Wir waren gut geeignet. Wir waren schwach und vergleichsweise wohlhabend, passende Sündenböcke für eine diktatorische Gesellschaft. Eines Nachts, als sie sich ganz sicher fühlten, holten sie mich und meine Familie. Ich war schließlich der Führer. Ich hatte wenige Hinweise, aber es gelang mir, durch einen Zufall — ob günstig oder nicht, magst du entscheiden — in dieser Nacht nicht zu Hause zu sein. Sie holten meine Frau und die Kinder und ließen mir eine Nachricht zukommen: Entweder verriete ich mein Volk und meinen Glauben, oder meine Familie würde ein schlimmeres Schicksal erleiden als den Tod. Man würde ihre Gehirne löschen und sie als Spielzeug für die herrschenden Familien gebrauchen. Es gab keine Garantien für mich, wenn ich mich ergab, auch nicht für sie, aber auch keinen Weg, sie zu befreien. Ich entfloh, ging hinaus in die Wüste, wurde eine Art Eremit, schleuste aber auch Flüchtlinge aus meinem Volk, denen es gelang, zu entkommen, in sicheren Unterschlupf.«