1. DACKELBLICK
EINS
Was f?r eine Absteige! Gut, ich hatte gewusst, dass es nicht das Grand Elys?e sein w?rde. Aber diese Unterkunft ist wirklich das Letzte. Eine Zumutung. Muffig und dunkel. Und dreckig. Ich gebe mir M?he, mich nicht genauer umzuschauen, aber der Schmutz meiner Vorg?nger ist un?bersehbar. Es ist offensichtlich, dass hier schon ziemlich lange nicht mehr saubergemacht wurde. Mir ist zum Heulen zumute - wie konnte ich nur in eine solche Lage geraten? Heute Morgen noch im Salon von Schloss Eschersbach, und jetzt das. Nun fange ich wirklich an zu heulen.
»Schnauze, du nervst!«, kommt es keine zwei Sekunden sp?ter von links.
Richtig: Das Schlimmste hatte ich noch nicht erw?hnt: meine Zimmernachbarn. F?nf an der Zahl, die meisten von ihnen unglaublich verwahrlost. Und das nicht nur optisch. Ungebildeter P?bel, der in einem Adligen wie mir nat?rlich gleich ein willkommenes Opfer ausgemacht hat. Mein Stammbaum reicht bis 1723, diese Ignoranten neben mir kennen vermutlich nicht einmal den Unterschied zwischen Markgraf und Markkl?sschen.
Vor meinem inneren Auge taucht mein Grossvater auf.»Wo ein von Eschersbach ist, ist oben. Vergiss das nie!«,pflegte er zu sagen. Ach Opili, wenn du mich jetzt sehen k?nntest - ich bin definitiv ganz unten angelangt. Bei diesem Gedanken heule ich noch lauter. Irgendjemand muss mich hier einfach rausholen!
»Komm, S?sser, beruhige dich.« Eine Hand greift durch das Gitter und krault mich hinter den Ohren. »Gleich gibt es ein leckeres Fresschen, und dann sieht die Welt ganz anders aus. Der erste Tag ist f?r alle schlimm.«
Hm, eine nette Stimme. Interessiert gucke ich zur Seite, um festzustellen, zu wem sie geh?rt: Neben dem Zwinger steht eine junge Frau in einer Latzhose und l?chelt mich aufmunternd an. Ihre Hand riecht nach gew?hnlichem Dosenfutter, trotzdem hat die Ber?hrung etwas Tr?stliches. Ich schlecke ihre Finger ab, sie beginnt zu kichern.
»Ja, ja, das schmeckt dir, nicht wahr?«, fl?stert sie mir zu.
O je, wenn die w?sste - an meinen verw?hnten Dackelgaumen habe ich bisher eigentlich nur frisches Herz und Pansen gelassen. Fertigfutter war die absolute Ausnahme, das gab es wirklich nur, wenn Emilia, unsere K?chin, krank war oder Urlaub hatte. Bei dem Gedanken an Emilia krampft sich mein kleines Herz zusammen, und ich muss ein bisschen winseln. Als ich mich heute Morgen von ihr verabschiedet habe, hat sie geweint. Weiss der Teufel, wie Menschen das immer hinbekommen. Aber zum ersten Mal in meinem Leben h?tte ich viel daf?r gegeben, auch ein paar Tr?nen vergiessen zu k?nnen.
»Du Armer, noch so schlimm?«, erkundigt sich die Pflegerin mitf?hlend. »Mach dir keine Sorgen, du bist so s?ss, wir finden bestimmt bald ein neues Frauchen oder Herrchen f?r dich. Versprochen!« Dann streicht sie mir noch einmal ?ber den Kopf und zieht ihre Hand wieder durch das Gitter.
Ich drehe mich um und trotte in die andere Ecke des Zwingers. Dort wirft ein Sonnenstrahl noch ein einladend helles Fleckchen auf den Boden, und ich beschliesse, es mir ein bisschen gem?tlich zu machen.
Offenbar bin ich nicht der Einzige, der auf diese Idee gekommen ist: Bevor ich mich hinlegen kann, tritt mir ein riesiges schwarzes Irgendwas direkt auf die Pfoten.
»Kleiner, ich glaube, du verziehst dich besser auf die andere Seite. Hier ist mein Platz.« Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, kommen die letzten Worte nur als heiseres Knurren.
Was f?r eine l?cherliche T?le! Meint die ernsthaft, sie k?nne mich in die Flucht schlagen? Mich, dessen Ahnen noch mit dem letzten Kaiser zur Jagd gegangen sind? Ich sch?ttle den Kopf.
»Ich glaube nicht«, entgegne ich so w?rdevoll, wie es mir unter diesen widrigen Umst?nden m?glich ist, »dass in diesem Etablissement mit Reservierungen gearbeitet wird. Ich war vor Ihnen da, also werde ich mich auch auf diesen Platz legen. Sie gestatten?« Mit diesen Worten schiebe ich Mr. Irgendwas zur Seite und lege mich schnell hin. Er starrt mich v?llig fassungslos an. So viel zivilen Widerstand hat er wohl noch nie erlebt. Zufrieden r?kle ich mich. Opili hatte doch Recht - ein von Eschersbach ist eben auch oben, wenn er unten ist.
W?hrend ich noch dar?ber sinniere, wann hier wohl mit der zweifelsohne eher bescheidenen Mahlzeit zu rechnen ist, verfinstert sich mein sonniges Fleckchen. Nanu, eine W?lke? Ich blicke nach oben, um festzustellen, was in aller Welt hier auf einmal diesen unerfreulichen Schatten wirft - und schaue direkt in das Gesicht eines ziemlich ungem?tlich aussehenden Boxers. Er schiebt seine Nase ganz dicht an meine und verstr?mt dabei einen Geruch, dass es mir regelrecht den Atem verschl?gt.
»Pass auf, du aufgeblasener Zwerg: Wenn du nicht neu w?rst, w?rst du jetzt ein toter Hund. Hier gelten unsere Regeln, besser du h?ltst dich daran. Also wenn mein Freund Bozo sagt, dass du dich verpissen sollst, dann …«, er kommt noch ein bisschen n?her und schnappt blitzschnell nach mir.
Aua! Ein stechender Schmerz f?hrt durch mein rechtes Ohr. Hilfe! Der ist ja gemeingef?hrlich! Ich belle aufgeregt - offensichtlich bin ich unter militante und gewaltbereite Strassenk?ter geraten. Aber sosehr ich auch belle - niemand kommt. Nicht einmal die junge Frau in der Latzhose. Boxer und Bozo grinsen selbstzufrieden.
»Spar dir die M?he. Die h?rt dich momentan nicht - ist zu den Katzen r?bergegangen. Wir k?nnten dich jetzt richtig plattmachen, und niemand w?rde dir helfen. Ein toter Hund mehr in der Statistik dieser Bude. Wen interessiert das schon?«
Ich merke, wie sich meine Nackenhaare str?uben und es mir eiskalt den R?cken herunterl?uft. Bozo, die schwarze T?le, baut sich wieder vor mir auf.
»Also, was ist jetzt? Wenn ich sageverpiss dich?«
»Dann verpisse ich mich?«, erg?nze ich seinen Satz.
»Richtig. Hundert Punkte. Braves Hundchen.«
Bozo verpasst meiner empfindlichen Nase noch einen kr?ftigen St?ber mit seiner ungepflegten Pfote. Erschreckt springe ich zur Seite und laufe auf zittrigen Beinen in die andere Ecke des Zwingers. Dort sitzen noch zwei andere Hunde, die das Geschehen gelangweilt beobachtet haben. Mord und Totschlag scheinen hier an der Tagesordnung zu sein, jedenfalls interessiert sich niemand daf?r, dass ich gerade Opfer eines Verbrechens geworden bin. Ein ?lterer M?nsterl?nder r?ckt ein St?ck zur Seite, als ich mich neben ihn setze. Immerhin nicht gleich der N?chste, der mich bedroht. Eine Weile hocken wir schweigend nebeneinander. Dann r?ckt er wieder ein St?ck n?her an mich heran und fl?stert in mein Ohr: »Leg dich besser nicht mit den beiden an. Die sind echt gef?hrlich. Aber wenn du ihnen aus dem Weg gehst, lassen sie dich meistens in Ruhe.«
Aus dem Weg gehen? Das ist doch wohl ein Scherz. Dieser Zwinger ist ziemlich klein, und wir sind immerhin f?nf Hunde. Offenbar ist dem M?nsterl?nder auch gerade aufgefallen, dass das ein Ding der Unm?glichkeit ist. Jedenfalls grinst er mich jetzt verschmitzt an und murmelt: »So gut es eben geht, haha. Ich heisse ?brigens Fritz.«
Ich sage erst einmal nichts. Unter den gegebenen Umst?nden habe ich wirklich keine Lust, mich zu unterhalten. Stattdessen lege ich den Kopf auf meine Pfoten und sehe Bozo und dem Boxer zu, wie sie sich aufmeinemSonnenfleckchen fl?zen. Wahrscheinlich machen sie sich gerade ?ber mich lustig. Eigentlich bin ich sehr gerne ein Dackel, aber in diesem Moment w?re ich viel lieber ein Kampfhund. Staffordshire, Pitbull oder irgendetwas anderes in RichtungLizenz zum T?ten.
»He«, Fritz knufft mich in die Seite, »sei nicht traurig. Die Pflegerin hat’s doch gerade gesagt: Du bist so ein richtiger Menschentyp, dich holt bald einer hier raus. Und dann zeigst du den beiden Idioten da dr?ben den Stinkefinger, denn die will garantiert keiner haben.«
Ich schaue Fritz nachdenklich an. Hoffentlich hat er Recht.
Am n?chsten Morgen f?hle ich mich wie ger?dert. Ich habe kaum geschlafen - und wenn mir doch mal f?r f?nf Minuten die Augen zugefallen sind, hatte ich furchtbare Alptr?ume. Von Boxern und Pitbulls, die mich durch den Zwinger jagen, und riesigen Mengen Dosenfutter, das ganz abscheulich schmeckt. M?de trotte ich zu Fritz, der schwanzwedelnd an der K?figt?r steht.
»Morgen. Was bist du denn schon so wach und gut gelaunt?«, will ich von ihm wissen.