Die restliche Nacht verbringe ich in meinem K?rbchen. Obwohl ich todm?de bin, kann ich nach diesem ganzen Desaster nat?rlich erst recht nicht schlafen. Ab und zu hebe ich ein ?hrchen an und lausche in die Dunkelheit. V?llige Stille. Aber selbst wenn ich wieder ein Ger?usch h?ren w?rde - keine zehn Pferde br?chten mich noch einmal in einen Raum, in dem sich auch dieser Thomas aufh?lt.
Die Sonne scheint durch die Werkstattfenster, mehrere einladende Fleckchen bilden sich auf dem alten Dielenboden und rufen»Komm, Carl-Leopold, leg dich auf mich und ruh dich ein bisschen aus!«Diese Aufforderung kommt mir sehr gelegen, die letzte Nacht steckt mir noch ziemlich in den Knochen. Ich schwanke nur, ob ich mir ein Fleckchen in Carolins Raum aussuchen soll, oder ob ich mich neben den Tisch lege, an dem Daniel gerade arbeitet.
Schliesslich lege ich mich neben Daniel. Ich f?hle mich ziemlich mickrig und habe Angst, dass Carolin mir die ganze Geschichte auch ?belnehmen k?nnte. Hat sie zwar mit keinem Wort gesagt, aber es ist mir doch noch ein bisschen unangenehm. Denn irgendetwas habe ich wohl komplett falsch gemacht. Auch wenn ich nach gr?ndlichem Nachdenken immer noch nicht weiss, was eigentlich. Aber dass mich Carolin nun schon wieder vor Thomas verteidigen musste, das ist mir wirklich peinlich.
»Na, wie war dein Wochenende? Wie lebt es sich mit deinem neuen Hund?«, will Daniel von Carolin wissen.
Ich klappe die Ohren an und senke die Nase zwischen meine Vorderl?ufe. Die Geschichte, die jetzt unweigerlich kommen wird, will ich gar nicht h?ren.
»Du - super! Thomas ist auch ganz begeistert von dem kleinen Kerlchen. Na ja, du weisst ja, wie tierlieb er ist.«
H?? War heute Morgen was im Futter? Offensichtlich halluziniere ich.
»Echt? Ne, wusste ich gar nicht, dass er Tiere so gerne mag. Aber umso besser, dann werden die beiden sich sicher blendend verstehen. K?nnen sie ja mal allein wandern gehen oder ein ?berlebenstraining machen oder was man sonst so als richtig harter Kerl mit seinem Hund unternimmt.«
T?usche ich mich, oder h?re ich da eine feine Ironie in Daniels Worten? Das ist ?brigens f?r mich als Hund gar nicht so leicht zu unterscheiden - Menschen benutzen oft die gleichen Worte und meinen dann etwas v?llig anderes. Erinnere mich noch gut, wie von Eschersbach erst sagte»Feiner Hund, gute Idee!«,als ich mit nassen Pfoten auf das Sofa im Salon gesprungen war, dann aber anschliessend mit seinem Gehstock ausholte und mir damit auf die Hinterl?ufe schlug. Ich konnte mich zwei Stunden ?berhaupt nicht beruhigen, bis mir Mama erkl?rte, dass Menschen oft das Gegenteil von dem sagen, was sie meinen, um damit klarzumachen, dass sie das auf keinen Fall meinen. Verr?ckt, oder? Im Kopf eines Menschen muss es ein paar sehr unpraktische und ?berfl?ssige Windungen geben. Wahrscheinlich, weil sie ihn durch ihren aufrechten Gang viel zu hoch ?ber der Erde tragen. Das ist ganz offensichtlich nicht gut f?r’s Gehirn.
Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings auch die Frage, wie Carolin dazu kommt, so etwas zu erz?hlen? Warum will sie nicht zugeben, dass unser Start in die gemeinsame Zukunft eine totale Pleite war? Ist Tierliebe vielleicht etwas, was den Wert des Menschenm?nnchens erh?ht? So wie etwa Raubwildsch?rfe, Wachtrieb und Schussfestigkeit den herausragenden Jagdhund auszeichnen? Mit herausragenden Jagdhunden kenne ich mich n?mlich bestens aus: Mama war dreimal im Finale des Bundeschampionats, die Regale auf Schloss Eschersbach biegen sich unter ihren Pokalen, und nie bekam sie eine schlechtere Note als »Vorz?glich 1«, kurz V1. Also wenn Tierliebe quasi in den Katalog geh?rt, und Carolin demonstrieren m?chte, dass Thomas ein Kandidat f?r V1 ist, dann macht ihre Geschichte nat?rlich Sinn. Aber andererseits sieht sogar ein kleiner Hund wie ich auf den ersten Blick, dass Thomas h?chstens ein »Gen?gend« bekommen w?rde, selbst mit Tierliebe. Wenn sie denntats?chlich vorhanden w?re.
Aber zur?ck zum Thema Ironie: Ehrlicherweise hoffe ich, dass Daniel das gerade nicht so gemeint hat. Denn die Kombination der WorteThomasmitalleinund?berlebenstrainingwecken bei mir ganz andere Assoziationen als die von grossartiger Freundschaft zwischen Mensch und Hund. Vielmehr sehe ich vor meinem inneren Auge Thomas, wie er mich ?ber einen Felsvorsprung in einen sehr tiefen Abgrund bef?rdert oder mich in einem einsamen Wald an einen Baum bindet und einfach geht. Dann lieber wieder Tierheim. Vielleicht kann ich dort mit Fritz, der leider bestimmt noch da ist, eine Hunde-WG gr?nden, und wir bekommen einen eigenen kleinen Zwinger? Meinetwegen auch neben dem Katzengehege - r?ckblickend stelle ich n?mlich fest, dass es eigentlich ganz lustig war, Beck in den Schwanz zu beissen.
»Also Daniel, du musst dich gar nicht dar?ber lustig machen. Ich glaube wirklich, dass Herkules und Thomas gute Freunde werden.«
Ah - Gott sei Dank! Also wirklich Ironie. Keine gef?hrlichen Alleing?nge mit Thomas.
»Ich mache mich nicht lustig. Ich bezweifele nur, dass dein lieber Thomas demn?chst mit einem s?ssen Kerlchen wie Herkules durch den Park joggt. Das geht doch zu sehr gegen sein gern gepflegtes Image als harter Kerl.«
»Was hast du bloss immer gegen Thomas?«
»Gar nichts. Ich frage mich nur manchmal, was er gegen mich hat.«
Carolin lacht laut auf. Klingt ziemlich unecht.
»Ich bitte dich - Thomas hat ?berhaupt nichts gegen dich. Im Gegenteil, er findet dich sehr nett.«
Carolins sonst so warme Stimme hat einen ganz blechernen Unterton. Ob Daniel das auch h?rt? Er seufzt.
»Sicher, sicher.«
»Ihr seid nur eben ziemlich verschieden. Aber deswegen k?nnt ihr doch trotzdem Freunde sein.«
Daraufhin sagt Daniel nichts mehr, sondern atmet nur deutlich h?rbar aus. Offenbar will er ?ber dieses Thema nicht mit Carolin reden. Schade, ich h?tte gerne mehr von seiner Meinung ?ber Thomas erfahren. Vielleicht habe ich in ihm einen Verb?ndeten? Das w?re sch?n, denn mittlerweile k?nnte ich in diesem Haus noch einen Freund brauchen.
Mittags geht Carolin kurz mit mir in die Wohnung, um mir mein Fresschen zu geben. Sie hat sich tats?chlich ein Buch ?ber Hunde gekauft - ich habe es auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen sehen - und m?glicherweise als Erstes das Kapitel ?ber gesunde Ern?hrung gelesen. Jedenfalls ist sie nun vom Dosenfutter ab, sondern hat auf unserem Spaziergang heute fr?h ein bisschen frisches Herz f?r mich besorgt. Als sie es kocht, breitet sich ein verf?hrerischer Duft in der Wohnung aus. Lecker! Eine sehr erfreuliche Entwicklung.
»So, mein Kleiner, das muss noch etwas abk?hlen, dann kriegst du es. Lass uns noch f?nf Minuten warten, ich muss sowieso mal kurz telefonieren, dann gebe ich es dir.«
Sie stellt meinen Napf mit den Herzst?cken in den K?hlschrank und geht in das Zimmer neben dem Wohnzimmer. Ich stehe noch ein wenig unschl?ssig herum, dann trotte ich in den Flur. W?hrend ich noch ?berlege, womit ich mich jetzt bis zum Mittagessen besch?ftigen k?nnte, sehe ich, dass die Schlafzimmert?re wieder offen steht. Seit zwei Tagen habe ich einen grossen Bogen um diesen Raum gemacht, aber jetzt siegt meine Neugier. Vielleicht finde ich dort irgendetwas, was erkl?ren w?rde, was in der Schreckensnacht von neulich eigentlich passiert ist? Ich w?sste zwar nicht, was das sein k?nnte, aber zumindest m?chte ich mich dort noch einmal im Hellen umsehen. Aus der anderen Ecke der Wohnung h?re ich Carolin mit diesem schwarzen Plastikteil sprechen. Nach allem, was ich mittlerweile ?ber Menschen im Allgemeinen und Frauen im Besonderen weiss, ist das ein sicheres Zeichen daf?r, dass sie momentan komplett abgelenkt ist. War bei Emilia auch immer so. Man konnte die tollsten Sachen aus der K?che klauen, wenn sietelefonierte.
Vorsichtig schiebe ich meine Schnauze durch den T?rspalt. Tatsache, die Luft ist rein. Schwupps, bin ich auch schon drin. Sieht auf den ersten Blick komplett unspektakul?r aus. Aber es ist bekanntlich der zweite Blick, der Sachen interessant macht. Besser gesagt, der Moment, in dem man als Hund genau hinschn?ffelt. Und deswegen beschliesse ich, hier mal alles einer gr?ndlichen Geruchsinspektion zu unterziehen.