Der Mann nickt. »Okay, meine Kollegen und ich nehmen Frau Neumann jetzt mit. Sie hat mit Sicherheit eine ziemliche Alkoholvergiftung.«
Alkoholvergiftung? Ob das sehr gefährlich ist?
»Ich werde ihr im Rettungswagen gleich eine Infusion dranhängen, um die Alkoholkonzentration etwas runterzubringen, im Krankenhaus sehen wir dann weiter. Die nächsten drei Tage bleibt sie wahrscheinlich da. So, Jungs«, er wendet sich an die beiden anderen Männer, »dann mal los.«
Die beiden Männer holen eine Trage aus dem Flur und stellen sie neben Carolin ab, heben sie zu zweit drauf. Dann marschieren sie mit ihr los. Die dritte Müllmannjacke verabschiedet sich kurz von uns, dann ist auch sie verschwunden. Ich merke, wie sich nach all der Aufregung plötzlich ein anderes Gefühl anschleicht: Traurigkeit. Und Einsamkeit. Ein kleiner Kerl wie ich braucht doch sein Frauchen! Ob ich jetzt wieder ins Tierheim muss?
»Was machen wir jetzt?« Nina schaut Daniel fragend an.
»Ich finde, einer von uns sollte auch ins Krankenhaus fahren. Damit jemand da ist, wenn Carolin wach wird.«
Nina nickt. »Gute Idee. Sie sollte in dieser Situation wirklich nicht allein sein. Was hältst du davon, wenn du schon vorfährst? Ich räume hier ein bisschen auf, dann komme ich nach.«
»Okay. Was machen wir mit Herkules?«
Die beiden schauen mich an. Nicht ins Tierheim!, will ich am liebsten laut rufen, es wird allerdings nur ein klägliches Jaulen daraus.
»Schau mal, wie kläglich er aussieht! Er muss auch furchtbare Angst gehabt haben. Wir können ihn unmöglich allein hierlassen. Außerdem ist er Carolins Retter, da hat er ja eigentlich eine Belohnung verdient.«
Endlich mal ein vernünftiger Gedanke von Nina.
»Ich schlage vor, ich nehme ihn nachher mit. Von mir aus kann er auch heute Nacht bei mir bleiben, ich würde ihn dir dann morgen in die Werkstatt bringen.«
»Gut. Dann mache ich heute Nachtschicht bei Carolin - falls es nötig ist. Und morgen übernehme ich Herkules. Bis später dann!«
Als er gegangen ist, macht sich Nina mit Eimer und Schrubber daran, die Bescherung im Wohnzimmer zu beseitigen. Als sie damit fertig ist, steht sie ratlos vor den Resten des weißen Teppichs.
»Kannst du mir vielleicht erklären, was hier passiert ist?«, will sie von mir wissen und hebt eines der Teppichstücke hoch. Sie dreht es hin und her, dann fängt sie an zu grinsen. »Den Teppich kenne ich doch - Thomas wollte ihn unbedingt haben, Carolin fand ihn scheußlich. Noch dazu war er sauteuer. Sieht fast so aus, als sei hier jemand stellvertretend in kleine Stückchen geschnitten worden.« Sie legt das Stück wieder hin. »Recht so, ich habe Hoffnung auf baldige Genesung der Patientin.«
Was nun wiederum das mit der kranken Carolin zu tun hat, leuchtet mir nicht ein. Aber es ist ja beruhigend zu hören, dass Nina es für ein gutes Zeichen hält.
Bevor wir losfahren, geht Nina noch einmal durch die ganze Wohnung, um zu schauen, ob sonst alles in Ordnung ist. Dabei entdeckt sie etwas, an das ich die Erinnerung schon längst verdrängt hatte: Sie kommt mit der Plastik-Halsmanschette aus dem Schlafzimmer, Carolin hatte sie dort auf die Fensterbank gelegt.
»Schau mal, was ich hier habe, Herkules!«
Ja, ich sehe es. Ganz toll. Was willst du denn mit der? Du hast doch gar keinen Hund, und um einen Menschenhals passt das Ding sicherlich nicht.
»Das müssen wir dringend zu Dr. Wagner zurückbringen, der vermisst sie sicherlich schon.«
Das glaube ich zwar nicht, aber wenn Nina so ein ordentlicher, gewissenhafter Mensch ist - bitte schön. Hauptsache, ich muss nicht wieder mitkommen und mich foltern lassen.
Ins Krankenhaus fahren wir dann doch nicht mehr. Daniel ruft an und sagt, dass alles so weit in Ordnung ist und er noch länger bleiben kann. Mir fällt ein sehr großer Stein vom Herzen. Allein die Vorstellung, dass Carolin ganz krank sein könnte, ist schauderhaft. Was war das bloß für ein Zeug, das sie da getrunken hat? Ich beschließe, in Zukunft besser auf sie aufzupassen, damit das nicht noch mal passiert.
Ninas Wohnung ist viel kleiner als die von Carolin und riecht auch völlig anders. Fast ein bisschen staubig, aber trotzdem ganz gut. Muss wohl an den vielen Büchern liegen, die hier überall sind. Fast an jeder Wand ist ein Regal, und jedes ist bis oben hin voll mit Büchern. Große, kleine, dicke, dünne. Kaum zu glauben, dass sie die alle gelesen hat. Kann man sich nur schwer vorstellen, vor allem, wenn man selbst gar nicht lesen kann. Mir ist immer noch nicht ganz klar, wie das eigentlich funktioniert. Fest steht, dass man dafür unglaublich lange auf ein Blatt mit einem seltsamen Muster gucken muss. Irgendetwas passiert dabei mit den Menschen.
In ihrem Kopf, meine ich. Denn ab und zu fangen sie an zu lachen, wenn sie so ein Blatt betrachten - obwohl niemand etwas gesagt hat und auch sonst nichts passiert ist. Oder sie weinen sogar. Das habe ich bei Emilia ab und zu beobachtet. Die las nämlich auch sehr viel. Was macht das Papier also mit dem menschlichen Kopf? Erzeugt es da irgendeine Art Halluzination? Oder Traum? Sollte ich Beck irgendwann mal wieder sehen, muss ich ihn das unbedingt fragen.
Die nächste wichtige Frage ist natürlich, wo ich schlafen werde. Denn ich merke gerade, dass ich unglaublich müde bin. In ihrem Bett lässt mich Nina bestimmt nicht schlafen. So wie ich diese Frau einschätze, könnte selbst mein schönster Dackelblick sie nicht erweichen. Oder soll ich es doch mal versuchen? Immerhin, sie hat es selbst gesagt: Ich verdiene eine Belohnung.
Also mache ich mich auf und zupfe Nina ein bisschen am Bein.
»Na, Süßer, auch müde, nicht wahr? Ich überlege gerade, wo du schlafen könntest. Ich habe ja kein Körbchen für dich.«
Jetzt ist genau der richtige Moment, den Kopf schief zu legen und unglaublich süß zu gucken. Ich versuche es. Nina schaut mich erstaunt an.
»Willst du mir etwas sagen? Du schaust so ... so seltsam.«
Seltsam? Unverschämtheit? Ich schaue total goldig, zum Anbeißen, zum sofort Verlieben! Nun guck doch mal genauer hin! Ich neige den Kopf noch stärker und fiepe ein bisschen.
»Hm, wirst du krank? Oder - willst du etwas Bestimmtes?«
Ich belle kurz und laufe los. Irgendwo muss hier doch das Schlafzimmer sein, die Bude ist ja alles andere als weitläufig. Hinter der nächsten Tür finde ich es schon. Ich trabe hinein und setzte mich auf meinen Hundepo. Nina kommt hinterher.
»Also, das klingt jetzt ein bisschen gaga und nach Prinz Charles spricht mit den Pflanzen - aber willst du mir vielleicht sagen, dass du in meinem Bett schlafen möchtest?«
Ich werfe ihr einen weiteren treuherzigen Blick zu und biete nun ein Kunststück, das ich noch nicht häufig zum Vortrag gebracht habe: Ich mache Männchen! Und es klappt sogar, ich stehe mindestens eine Minute wie in Stein gehauen. Also, wenn das nicht zieht, weiß ich auch nicht.
Nina guckt - und bricht in schallendes Gelächter aus. »Das ist ja köstlich! Herkules, wo hast du das denn her?«
Beleidigt setze ich mich wieder. Diese Frau hat offensichtlich keine Ahnung von Kunst. Und sie weiß offenbar auch nicht, wie schwierig es für einen Hund ist, sich in die Senkrechte zu begeben. Ja, als Mensch, da ist das ja gar nichts. Da können das alle. Aber für mich war das eben schon ziemlich gut. Schnepfe! Zu der will ich gar nicht mehr ins Bett. Da schlafe ich lieber auf der Fußmatte und überhaupt...
»Na komm, du Strolch! Hüpf rein!« Mit einer schnellen Handbewegung schlägt Nina die Bettdecke am Fußende zurück und klopft einladend auf die Matratze.
Sagte ich Schnepfe? So ein Quatsch. Eine ganz Nette ist sie, die Nina.
»Guten Morgen, ihr beiden. Na, ich weiß jetzt nicht, wer schlechter aussieht - du oder Daniel.«
Nina und ich sind am nächsten Tag nicht in die Werkstatt, sondern direkt ins Krankenhaus gefahren. Daniel hat nämlich die ganze Nacht an Carolins Bett gewacht. Entsprechend zerknittert sieht er in der Tat aus. Das ist dann wieder der Nachteil, wenn man kein Fell im Gesicht hat: Ein ungesunder Lebenswandel lässt sich eindeutig schlechter verbergen.